Tag für Tag zunehmend erodieren in Syrien die bislang bestehenden Machtverhältnisse. Das Regime von Bashar al-Assad ist so gut wie erledigt. Seine Familie schon außer Landes. Die Verbündeten Iran, die Hisbollah und Russland, die sich anderswo in Kriegen und Krisen bewegen, können nichts mehr ausrichten. Islamisten unterschiedlicher Couleur befinden sich auf dem Vormarsch Richtung Damaskus. Die letzten Bastionen der brutalen Herrschaft des Staatschefs fallen. Assad erscheint geschlagen. Was dem Westen nicht gelang oder gelingen wollte, verrichten andere. Flankiert von der Türkei und ihrem streitbaren Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Spekulationen, was Syrien erwartet, das Land, das derzeit auch von Israel militärisch in die Zange genommen wird, gibt es allerlei. Mehr oder weniger belastbar. Die einen besagen, dass das Land, seit Langem vom Bürgerkrieg gezeichnet und zerrissen, nach einer Machtübernahme durch islamistische Rebellen so etwas wie Stabilität gewinnen könnte. Weswegen es Berichte gibt, dass die Menschen den vorrückenden Kämpfern eher vertrauen, als dass sie sich ängstigen. Andere befürchten, dass alte Grausamkeit neuer weichen könnte. Welche politischen Auswirkungen der Vormarsch gegen Assad haben wird, darüber herrscht weitgehend Ungewissheit.
Als sich 2011 Rebellen in Syrien aufzulehnen begannen, war zunächst so etwas wie Hoffnung verbunden. Doch schnell merkte der Westen, dass die, die dem zum Diktator mutierten Augenarzt zu Leibe rücken wollten, nur eine Abart islamitischer Kräfte waren, die anderswo schon ihr Unheil angerichtet hatten. Der Westen ging auf Distanz. Ein Machtkampf im Land entflammte, den man sich selbst überließ. Die Folge: Zehntausende SyrerInnen flüchteten. Vor allem nach Europa. Dem das zu zuviel wurde. Weswegen man die Türkei als quasi Abstellplatz für die Geflüchteten gewann. Und Erdogan dafür freie Hand ließ, in das politische Vakuum des Nachbarstaates zu stoßen.
Dort nämlich, im Norden, angrenzend an die Türkei, liegt von Kurden bestimmtes Gebiet. Und die Kurden dort sind Erdogan seit Langem ein Dorn im Auge. Weil sie, gemeinsam mit kurdischen Verbündeten in der Türkei, dem Irak und dem Iran sich – bestenfalls – einen eigenen Staat wünschen. Das letzte, was der türkische Staatschef zuließe. Weswegen seine Armee nach Nordsyrien einrückte. Im Clinch mit Damaskus. Nun, so Erdogans Kalkül, könnte im Zuge des islamistischen Vormarsches, auch sein Kurdenproblem gelöst werden. In diesem Sinne nimmt er die derzeitige Entwicklung nicht nur billigend in Kauf, sondern unterstützt sie. Eine knifflige Melange.
Denn was gedenkt der Westen inklusive der USA, jetzt zu tun? Wird er das türkische Kalkül gutheißen? Auch, weil Europa Erdogan dankbar ist, Abertausende syrische Flüchtlinge aufgenommen zu haben? Und Assad (und damit indirekt auch Russland, dem Iran und der Hisbollah), der Nordsyrien nicht an Kurden, Islamisten und letztendlich die Türkei hergeben wollte, mittelbar die Stirn geboten zu haben? Doch was, wenn sich herausstellt, dass die Islamisten eben nicht Stabilität bringen, sondern das Gegenteil. Und schon gar nicht Israel beispringen, dem auch Erdogan mehrfach unverhohlen antisemitisch ins Getriebe seiner Nahost-Politik gekrätscht ist?
Erdogan, dessen Land NATO-Mitglied ist, wird versuchen, seine Anti-Kurden-Strategie, sein Verhalten zu möglichen neuen islamistischen Machthabern und zu Russland, mit dem er es sich bislang trotz Syrien-Konflikts nicht ernsthaft verscherzen wollte, in seinem Interesse abzuwägen. Nicht zuletzt, weil er sich davon auch insgesamt größeren und tragfähigeren Einfluss in der Region verspricht. Der Westen wiederum dürfte seinem Afghanistan-Beispiel folgen. Und auch streitbarsten islamischen Kräften Syrien überlassen. Allein schon deshalb, weil man nicht noch mehr Kriege und Krisen am Hals haben möchte. Für die Menschen in Syrien verheißt das nichts Gutes.
Sie hoffen seit mehr als einem Jahrzehnt, dass der Westen sich um sie kümmert. Dort, wo ihre Heimat ist. Vergebens. So hofften es auch die Menschen in Afghanistan. Bis sich die USA und ihre Verbündeten, auch Deutschland, verpieselten. Und das Volk den Taliban zum Fraß vorwarfen. Nicht einmal mehr Fluchtgründe gibt das her. Denn Asyl bekommt, wer verfolgt wird. Doch wer wagt sich schon gegen eine grausame Taliban-Diktatur auf die Straße? Den Mund aufzumachen. Es wird versucht, aus Todesangst Verfolgung und Tod zu entgehen. Dieses Schicksal könnten auch der Bevölkerung in Syrien, inklusive Kurden, blühen: Weitere Ignoranz des Westens. Und Dank an Erdogan.

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