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Orte fürs Fallenlassen

Artisten in der Zirkuskuppel ratlos. So der Titel eines Films von Alexander Kluge. 1968 bei den Festspielen in Venedig uraufgeführt. Laut Kluge ist das Thema damals: „Die Lage, in der wir uns selbst befinden, wir, die wir uns auf dem hohen Seil, den Trapezakten der fine arts bewegen“. Der Film steckt voller Absurditäten. Scheinbar zusammenhanglosen Handlungen. Warum mir gerade dieser Film einfällt? Es gibt keinen wirklichen Zusammenhang mit dem dem, was mir durch den Kopf geht. Mir liegt gerade einfach der Titel nah.

Weil mich Artisten in der Zirkuskuppel seit jeher fasziniert haben. Anfangs glaubte ich, all diese Artisten würden sich tatsächlich, hochdroben in der Zirkuskuppel, ohne jede Sicherheit bewegen. Ohne ein Netz, das sie auffängt, wenn mal eine dieser doch stets irgendwie waghalsigen Nummern schiefgeht. Ich betrachtete sie als glanzvolle Helden, die unter dem Einsatz ihres Lebens da durch die Lüfte schwingen. Nach Saltos einander halten. Im Vertrauen darauf, dass der oder die Andere einen wie verabredet sicher auffängt.

Bis ich gewahr wurde, dass man natürlich Vieles verabreden kann. Ob das dann klappt, ist eine andere Sache. Als ich einmal die Luft anhielt, weil das mit dem Auffangen nicht gelang. Und ich dachte, nun wäre es aus und vorbei. Das mit dem Durch-die-Lüfte-schwingen. Eine schöne Bescherung. Da hatten die Artistinnen und Artisten sich verabredet und nun das: Der freie Fall ins Nichts, den Tod. Da sah ich, dass der Artist, der da haltlos durch die Lüfte taumelte, in einem breiten grünen Netz landete. Sanft und wohlbehalten.

Das war also der Trick. Die ganz große Nummer ankündigen, wagen. Und wenn die dann mal nicht so gut funktioniert, wissen, dass, wenn man fällt, doch weich landet. Als eine Art Lehre habe ich mir seitdem im Leben immer einen Ort geschaffen, an dem ich, wenn mal eines meiner mehr oder weniger Aufsehen erregenden Kunststücke misslingt, aufgefangen werde. Das, so spürte ich, würde gegebenenfalls existenziell sein. Mein Leben retten. Physisch, mitsamt der Seele. Und nicht wenige Male hat das auch ganz prima geholfen.

Zum ersten Mal seit ich denken kann bin ich nun ohne ein Netz unterwegs. Ich meinte, wenn ich 67 bin, müssten meine Erkenntnisse, Erfahrungen und Übungen ausreichen, um Fallstricke zu erkennen, bevor ich ins Bodenlose stürze. In einen Abgrund ohne ein Netz, das mich auffängt. Ich kann sagen, dass einen das ganz schön ins Schwitzen bringen kann. Ins Grübeln. Aber dafür ist ja ohne dieses Netz keine Zeit. In dem Moment, wo man zum Kunststück ansetzt, schwirrt man auch schon los. Und dann muss alles laufen wie geschmiert.

Und das ist dann anders als im Film. Auch als im Film von Alexander Kluge. Wo es um – freilich ironische – Wege geht, wie man dem Tod doch noch entkommen könnte. Wenn es im echten Leben nicht ohne halsbrecherische Fehler läuft. Und wenn ein Ort, der einen auffängt, fehlt. Dann ist man ziemlich aufgeschmissen. Dann braucht es ein unverschämtes Wunder, dem existenziellen Aus von der Schippe zu springen. Das geht mir durch den Kopf, wenn ich an die ratlosen Artisten in der Zirkuskuppel denke. Puhhhhhhh…..

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