Mein Onkel, Gott hab ihn selig, war fest überzeugt. Dass man in jungen Jahren ein noch so überzeugter Revoluzzer sein kann. Irgendwann ist es vorbei. Dann beginnt eine wundersame Wandlung. Zum Konformisten. Dann haben Aufmüpfigkeiten, Träume von Weltverbesserung und Kapitalismus-Erosion ein Ende. Dann kommen Karriere, Familiengründung und, bestensfalls, der Hausbau. Dann bricht sich die unvermeidliche Einsicht in notwendige Anpassungen Bahn. Dann ist es aus mit den ganzen Spinnereien, wie er meinte.
Mal dauert es länger, mal weniger lang. Vielleicht ist es eine Art Ermüdungsbruch. Die geistigen und physischen Gerüste werden spröder. Und bevor man zugeben muss, dass alte Überzeugungen zerbröseln. Dass der Kampf gegen einen sich ins Leben schleichenden Opportunismus mit dem Alter immer anstrengender wird. Erhebt man das unreflektierte Spießertum zur neuen Ikone eigenen Daseins. Man nennt das der Tarnung halber dann etwa Hedonismus. Und bleibt trotz Gleichschaltung irgendwie ein Individuum.
Ich ärgere mich immer wieder, wenn über alte weiße Männer hergezogen wird. Ich fühle mich dann ungerechterweise in Sippenhaft genommen. Zugleich beobachte ich, wie sich tatsächlich in meinem Altersumfeld eine Transformation breit macht, die mich staunen lässt. Und zwar weniger dort, wo ziemlich klar scheint, dass man zu einer Spezies konvertiert ist, von der man früher dachte, sie gehört samt und sonders aus der Welt geschafft. Sondern dort, wo der Seitenwechsel eher nicht so offen sichtbar und allmählich vollzogen wird.
Hier bei mir um die Ecke gibt es da ein Exemplar. Dass sich beispielsweise gegen reiche Säcke wendet, Jazz liebt, geradezu hasserfüllt gegen einen zerstörerischen Tourismus wettert und SUVs vermutlich am liebsten in die Luft sprengen würde. Kann ich nachvollziehen. Zugleich beklagt der noch nicht so alte weiße Mann, dass es in Kroatien keine Sexshops mehr gebe, nicht ausreichend Erotik im Fernsehen, immer weniger nackte Frauen im Abendprogramm. Dass zu wenig gevögelt würde. Und dass ein Hummer 300 statt 60 € kostet.
Der Mann befindet sich ganz offenbar in der Übergangsphase. Er wird sich, frei nach Philipp Roth, eines Tages vermutlich nur noch dem Sex und dem Hummer zuwenden. Garniert mit wachsender Respektlosigkeit vor Frauen, zu Klängen von Billie Holiday. Wird seine anderen Ressentiments peu à peu vergessen und sich (siehe oben) einen Genussmenschen nennen, der sich, statt auf andere zu wettern, dem ausschließlich entspannten Dasein im Hier und Jetzt hingibt. An all dem anderen kann man ja eh nichts ändern. Altherrenapplaus!
Andere haben ihr Lehrlingsstück bei Corona abgeliefert. Schimpften in der akuten Pandemie über Freiheitsberaubung. Zumindest völlig überzogene Maßnahmen. In Wirklichkeit waren sie sauer, dass ihre Weinseminare und Kochkurse abgeblasen wurden. Ihr Sterne-Restaurant vor die Hunde ging. Und sich die Lieferung des Gartenzauns für ihr teuer erspartes Reihenhaus verzögerte. Früher hätten sie mit einem 6-Euro-Pinot-Grigio und Frikadellen gelächelt. Und Corona als heimlichen Wink Lenins gegen bürgerliche Dekadenz verstanden.
Gerät man in die Fänger dieser Männer, die nicht selten wohlwollend beipflichtende Frauen im Schlepptau haben, gerät man zugleich ins Feuer. Kritik an ihrem Wandel wird als lebensfeindlich abgewehrt. Man sei, hielte man an alten Positionen fest, offenbar verbittert. Sehe alles zu eng. Sei nicht flexibel. Schlimmstenfalls ein Misanthrop. Ein dämlicher Gutmensch. Der Klimawandel lasse sich nunmal nicht bremsen. Alte Frauenbilder seien eine Sache der DNA. Man müsse sich, so der gute Rat, mal ein bisschen locker machen.

Das tue ich hiermit. Ich bleibe der andere alte weiße Mann – und dabei, den Unkenrufen meines Onkels mein nimmermüdes aufmüpfiges Gemüt entgegenzusetzen. Ich mag nunmal bezahlbaren Wein und muss nicht permanent meine Nase in Gläser stecken und so tun, als wüsste ich Bescheid. Ich esse am liebsten in einfachen Gaststuben. Halte mein Geld beisammen. Höre Jazz, ohne mich als Experte zu gerieren. Sexshops und nackte Frauen im TV brauche ich nicht. Bin quasi ein ganz einfacher Genießer, ohne Allüren.
Ich pflege, anders als die Verwandtschaft voraussagte, Haltungen, die ich schon in der Adoleszenz gewonnen habe. Damals hatte ich Begegnungen, die mich bis heute prägen. Und wann immer sich mein Leben weiterbewegte, nahm ich sie mit. Ich habe meine Haltungen lieb gewonnen und wüsste nicht, warum ich sie hergeben sollte. Sie waren mir stets gute Begleiter. Haben mich geerdet, wenn Gefahr in Verzug war. Und mich beschwingt wie Musik, wann immer es ging. Deshalb werde ich sie als alter weißer Mann mit ins Grab nehmen.

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