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Menschlichkeit Ist Unteilbar

Etwa drei Millionen Kinder unter fünf Jahren sterben laut internationalen Statistiken jährlich an Hunger. Schätzungsweise 800 Millionen Menschen leiden unter den Folgen von Hungersnot. Alle 3,6 Sekunden verhungert auf der Welt ein Mensch. Die Zahlen weisen insgesamt nach oben. Das ist erschreckend, aber wir erschrecken uns kaum noch darüber. Zumeist nur dann und nur kurz, wenn neue Daten auf den Tisch kommen. Wir kennen oder ahnen das Unglaubliche. Aber wir stumpfen ab. Auch weil der Kampf dagegen müßig scheint.

Um so müßiger, als dass die Ursachen der Hungersnöte vielfältig sind. Kriege, Krisen, Klimawandel und vermeintlich unabänderliche Katastrophen. Die Ungleichverteilung von Vermögen. Wer will das Alles in Griff bekommen? Wer traut sich zu, bei diesen Weltdramen ein Ranking zu erstellen. Ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, die einen Schicksale über andere zu stellen. Ohne in Verdacht zu geraten, Opfer gegeneinander abzuwägen. Die Bedenken sind verständlich. Doch es wird – und nicht ohne Absicht – genau dies täglich getan.

Warum werden Flüchtlinge aus der Ukraine besser behandelt als Schutzsuchende aus Syrien, Afghanistan, Afrika? Warum wird über jeden toten Soldaten in Russland oder der Ukraine derzeit mehr berichtet als über den Tod jedes einzelnen Kindes, das täglich irgendwo in der Welt stirbt? Warum verdient das Getreide-Problem in Europa mehr Aufmerksamkeit als die andauernde Ernährungs-Not in Asien oder Afrika? Weil es einen Aggressor gibt, den wir schon lange im Visier haben? Weil wir unsere eigene Aggression ignorieren?

Wir pflegen das herbeipolitisierte Ranking des Schreckens und der Entrüstung darüber, als würde dies besonders gute Manieren zeigen. Dabei werden die Maßstäbe, je nach individueller Interessenlage – meist der im engen Sinne eigenen – ständig verschoben. Wir höhlen das Regelwerk der Menschlichkeit, das für alle gelten sollte, permanent aus. Und geben im gleichen Atemzug vor, uns stets an die Unteilbarkeit von Humanität und Würde zu halten. Als gäbe es – harmlos interpretiert – Gleichere unter den Gleichen.

Das ist kein Plädoyer dafür, wie ich schon manche schäumen sehe, die Opfer etwa in der Ukraine zu marginalisieren. Aber das ist ein Plädoyer dafür, nicht jeden Tag neue Richtschnüre über den Erdball zu spannen. Um sie immer wieder einzureißen. Und Zeichen zu setzen, dass man im Grunde nichts wirklich ernst nimmt. Politik und Öffentlichkeit, inklusive der Medien, werden um so glaubwürdiger, wenn sie aufhören, Sprachrohr der Lauten zu sein. Und alles stets aus am Ende vor allem egoistischem Blickwinkel zu betrachten.

Kriege, Krisen und menschengemachter Klimawandel verschärfen insgesamt das Leid auf der Welt. Fürwahr. Die Ursachen des Leids lassen sich freilich vielerorts finden – und müssen allerorts analysiert und bekämpft werden. Es geht in einer globalen Zivilisation nicht darum, die einen zu retten und die anderen ihrem „Schicksal“ zu überlassen. Weil Alle für Alle Verantwortung tragen, müssen wir uns genau dieser Verantwortung stellen. Und in jeder Hinsicht den eigenen Anteil an dem, was passiert oder nicht, erkennen.

Dabei darf es nicht beim Erkennen bleiben. 14 Milliarden Dollar im Jahr sind, wie es heißt, nötig, um bis 2030 den Hunger aus der Welt zu schaffen. Das ist ein Bruchteil dessen, was wir derzeit mehr oder weniger unmittelbar in Kriege investieren. Krisen und Kampf gegen Klimawandel ausgenommen. Es ist ein Zeugnis geistiger, politischer und mentaler Armut, dass wir offenbar nicht in der Lage sind, diese Summe ohne jede weitere Überlegung locker zu machen. Ohne die, wie wir grundsätzlich Kriege, Krisen und Klimawandel verhindern können.

Es muss aufhören, dass, wer am lautesten brüllt, am meisten beachtet und gefüttert wird. Die wenigsten Menschen, schon gar nicht hungernde Kinder, haben eine laute Stimme in die Welt, die ihren Nöten Gehör verschafft. Um so mehr müssen wir denjenigen Beachtung schenken. Sie dürfen nicht täglich von Politik und vor allem medialer Öffentlichkeit untergepflügt werden. Wir müssen den Kreislauf stets wechselnder Aufmerksamkeit und Ignoranz durchbrechen. Zugunsten verlässlicher und unteilbarer Humanität gegenüber Allen.

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