Als ich 2017 auf einer Reise nach Israel und in die Palästinensergebiete war, führte mich mein Weg auch nach Bethlehem. Ich war von Jerusalem aus mit dem Bus unterwegs. Passierte die Grenze von Israel ins Westjordanland. Dort liegt Bethlehem. Zona A. Also unter palästinensischer Polizei- und Zivilkontrolle. An der Bushaltestelle in Bethlehem warten palästinensische Taxifahrer. In eines der Taxis steige ich ein. Mit mir eine junge Britin. Für jeden halber Preis. Zur Geburtskirche wollen wir. Wie viele. Christen betrachten sie als Geburtsstätte Jesu Christi. Ich sehe sie als eines der wenigen Beispiele vollkommen erhaltener frühchristlicher Kirchenbauten. Jesus hin oder her.
Ich habe schon andere Orte im Westjordanland hinter mir. Ramallah. Jenin. Hebron. Wir steigen in das Taxi. Der Fahrer blickt durch seinen Rückspiegel zu uns in den Fonds. Ich sage, vielleicht etwas kurz angebunden: Zur Geburtskirche. Und ernte: Erstens einen düstren Blick. Und zweitens: Den Beginn eines Vortrags. Von dem der Fahrer meint, ich hätte ihn nötig. Der Vortrag, ahne ich, dürfte uns an der Bushaltestelle für einige Zeit festhalten. Er dreht sich, so ergibt sich aus den Anfangsworten, um das ganze palästinensische Drama mit Israel. Ich werfe ein, ich kenne die Geschichte, verstehe sie, das Leid der Palästinenser. Bin solidarisch. Deswegen könne er losfahren.
Ich schmunzele dabei, irgendwie. Die junge Britin auch. Ob wir die Geschichte der Palästinenser, ihr Leid, die Rolle Israels nicht wahrnehmen wollen? Oder gar wahrhaben? Die Britin muss kichern. Weil ich den Ernst der Worte des Taxifahrers offenbar unterschätzt habe. Und nun haben wir den Salat. Der Taxifahrer brüllt jetzt. Das sei typisch für Touristen. Alles sehen, nichts hören wollen. Doch, erwidere ich. Aber ich hätte es schon gehört. Auf meiner Reise. Ich würde es ja verstehen. Nichts würde ich verstehen, keift der Taxifahrer. Doch, sage ich. Aber wir würden jetzt gerne zur Geburtskirche. Raus! der Taxifahrer geht ums Auto. Öffnet die Tür. Raus! Klare Ansage.
Wir fuhren wieder mit dem Bus zurück nach Jerusalem. Am nächsten Tag Hebron. Mit Breaking the Silence. Eine Organisation ehemaliger israelischer Soldaten, die die Besatzung mitgemacht haben. Und ihr heute kritisch gegenüberstehen. Und Touristen zeigen, warum. Hebron ist in zwei Zonen unterteilt. H1 und H2. Zone H2 wird von Israelis kontrolliert. Dort leben ein paar Tausend Palästinenser und ein paar Hundert jüdische Siedler. Das Leben ist stark eingeschränkt. Leergefegte Straßen. Geschlossene Läden. Überall Checkpoints israelischer Militärs. Was sich hier abspielt, hat Geschichte. Palästinenser gegen Juden, und umgekehrt. Aber der Preis?







Unser Ziel ist ein Haus von Palästinensern, die uns ihr Leben schildern. Aus ihren Lautsprechern schallt arabische Musik. Von nebenan israelische Klänge. Der Feldweg führt an einzelnen Häusern jüdisch-orthodoxer Siedler vorbei. Hin und zurück. Zurück wird uns die Strecke von Kindern der Siedler versperrt. Oben stehen ihre Eltern. Die Kinder bespucken und werfen Eier nach uns. Wir müssen Ruhe bewahren. Jedes Wegdrängen würde als Gewalt gesehen. Gäbe Ärger. Die Guides von Breaking the Ssilence telefonieren mit Militärposten. Nach eineinhalb Stunden endlich kommen israelische Soldaten, machen den Weg frei. Soweit, so eindrücklich. Überhaupt nicht lustig.
Was ich damit sagen will: Es gibt Geschichten. Und Geschichte. Es gibt Situationen und ihre Interpretation. Es gibt Realitäten, die man erkennen oder wegdenken kann. Auf allen Seiten. Oft fehlen Toleranz und Freundlichkeit. Das ist beunruhigend. Dazu gehört auch, dass wir im Westjordanland mit einer Hilfsorganisation unterwegs waren. In einem Wagen mit gelbem Kennzeichen. Das ist die Farbe in Israel gemeldeter Autos. Fuhren wir palästinensische Orte an, haben wir Palästinensertücher über die Amaturen gelegt. Um nicht Ziel von Steinewerfern zu werden. An israelischen Checkpoints wurden wir argwöhnisch unter die Lupe genommen. Weil unser Ziel Jenin war.
Jenin gilt seit jeher als Extremisten-Hochburg. Wir wollen zum Freedom Theatre. Einem palästinensischen Theater- und Kulturzentrum. In dem Teil Jenins, der Flüchtlingslager ist. Seit 1948. Der Theater-Gründer wurde 2011 ermordet. Israelische und palästinensische Ermittler fanden nie heraus, von wem. Vielleicht, so heißt es, von radikalen Palästinensern, denen der Kurs des Theaters zu liberal war. Weil beispielsweise junge Frauen ohne Kopftuch auf der Bühne standen. Auch das ist Realität. Rivalitäten und Feindschaften untereinander. Bei Palästinensern und Israelis. Israeli ist nicht gleich Israeli, Palästinenser nicht gleich Palästinenser. Es gibt Solidarität und Abgrenzungen.
https://thefreedomtheatre.org/who-we-are/
Ich schreibe das, weil ich mich frage, wieso es angesichts des verbrecherischen und menschenverachtenden Hamas-Terrors plötzlich verboten ist, auf Geschichte und ihre Geschichten hinzuweisen. Warum ein UN-Generalsekretär deswegen abtreten soll. Weil Hintergründe nicht mehr Hintergründe sein dürfen? Weil Geschichte und Geschichten plötzlich als Rechtfertigung gelten? Was ist das, bitte schön, für eine Form von Solidarität, die da eingefordert wird. Eine Solidarität, die als Blankoscheck für neue Unmenschlichkeiten herhalten soll? Natürlich muss der Terror bekämpft werden. Überall auf der Welt. Aber er hat schon ausreichend Opfer gekostet.
Der Terror hat so viele Opfer gekostet, dass es kaum auszuhalten ist. Vor dieser Wahrheit ist es geradezu Pflicht, den Terror in seine Schranken zu weisen. Und zugleich darauf hinzuweisen, dass es eine Spirale der Gewalt gibt, die immer neue Menschenleben fordert. Diese Spirale der Gewalt muss gebrochen werden. Das geht nur mit einem Minimum an Hass und einem Mindestmaß an Vernunft und politischer Weitsicht. Einzufordern, dass im Moment schlimmsten Terrors Weitsicht zurücktritt, impliziert ewiges Blutvergießen. Und die Gefahr, dass Geschichte und Geschichten auch in Zukunft in ein Meer der Tränen münden. Das ist weder Israelis noch den Palästinensern zuzumuten.

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