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Zeit Der Extreme

Immer wieder, so erscheint es mir, finden Gesellschaften eine masochistische Lust, sich in den Extremen zu spiegeln. Wie Gefahrensucher. Die politischen Debatten rücken an die Ränder, dort, wo die Reibungskräfte am stärksten sind. Reibung erzeugt Wärme. Die Gemüter suchen das offenbar. Brauchen es, dass sie sich erhitzen. Ereifern. Es reicht ihnen nicht, einvernehmlich die Diversitäten wahrzunehmen. Standpunkte auszutauschen. Einen Rahmen zu finden, in denen das Gespräch möglich ist. In dem es möglich ist, Lösungen für Probleme zu finden. Sie suchen nicht Auswege. Sie schöpfen aus der Ausweglosigkeit.

Juden haben zunehmend Angst, in Deutschland auf die Straße zu gehen, in Synagogen. Die Synagogen gelten Antisemiten per se als Vasallen-Nester ultra-orthodoxer Siedler, die in Levante Arabern Ehre und Land rauben. Und Palästinenser haben Angst, auf die Straße zu gehen, in Moscheen. Die Moscheen gelten als per se Brutstätten des Hamas-Terrors, der Juden das Existenzrecht und ihren Staat verweigert. Kippa und Palästinensertuch gelten, je nach Sichtweise, als Provokation. Als Aufruf zur Diffamierung. Nicht das größte gemeinsame Vielfache wird gesucht, sondern alles zum Extremen hin fokussiert.

Ich habe lang vor dem 7. Oktober damit begonnen, mir einen längeren Bart wachsen zu lassen. Eine Freundin schlug den Bogen zum nahenden Weihnachtsfest. Ein Bekannter rückte mich in die Nähe der Hipster-Szene. Ein Freund nannte mich zum Spaß einen Mullah. Das war dann schon gar nicht mehr lustig. Denn mir geht in der Tat durch den Kopf, wie es etwa wäre, ich suchte eine Wohnung. Was würde der Vermieter denken? Dass er sich den IS ins Haus holt? Würde er die Wohnung einem Kippa-Träger geben, dem möglicherweise Hamas-Anhänger auflauern und darob das Treppenhaus in Schutt und Asche legen?

Das alles klingt übertrieben. Aber die Übertreibung und die Zuspitzung führen zum Sound, der derzeit allenthalben in Politik, Kulturinstitutionen und anderswo durch Deutschland schallt. Statt in einem Konflikt, der das Potenzial zur endgültigen Feindschaft ohne Ausweg hat, das zu suchen, was verbinden könnte, wird mit verbaler Verve das ewig Trennende herausgetönt. Statt in einer explosiven Situation, die allen das Leben schwer macht, die entschärfenden Momente in den Vordergrund zu dirigieren, wird Öl ins Feuer gegossen. Dem Extremismus wird der Kampf angesagt, um ihn zugleich auf Touren zu bringen.

Wir merken gerade ob dem Drang, sich am Extremen abzuarbeiten, gar nicht, wie sehr wir damit dem Extremismus Treibstoff liefern. Und das Entschärfende, das Versöhnliche, das Gemeinsame vernachlässigen. Es gibt mehr Israelis und Palästinenser, die der Wunsch nach fundamentiertem Frieden verbindet, als es Extreme auf beiden Seiten gibt, die jede Form des Miteinanders für Verrat an ihren Ideologien halten. Ideologen auf beiden Seiten sind es, die den Dialog ablehnen, sich gegenseitig scharf stellen. Es gibt aber ausreichend Kräfte, die das nicht wollen. Wenn man nicht hinschaut, kann man sie nicht sehen.

Unser Land täte gut daran, sich weder von der Hamas noch von Politikern wie Netanyahu das Handeln diktieren zu lassen. Wir täten gut daran, unser Handeln, ob direkt oder indirekt, nicht von den Extremen oktroyieren zu lassen. Wir müssen nicht in die Falle laufen, die uns einseitige Interessen und ihre Protagonisten stellen. Auch wenn das, je nach Standpunkt, einen weithin schallenden Applaus, mal von da, mal von dort, sichert. Wir brauchen niemanden, der uns auf die Schulter klopft, weil wir ihn sehen und andere übersehen. Es wäre gut, wenn wir auf leiseres, aber nachhaltiges, friedliches Wohlwollen setzen.

Die Gewalt im Nahe Osten, der Antisemitismus, die Ängste der Juden in Deutschland wie das zunehmende pauschale Diffamieren aller, die berechtigte Kritik an der Politik Israels üben, gebieten, sich dem entgegenzustellen. Und genau hinzuhören, worum es geht. Die Zeit, in der Extreme an die Oberfläche unserer Lebenswirklichkeit drängen, verlangtt, nicht weniger, sondern mehr das Gespräch zu suchen. Den Extremen, auch in deren Spiegelung, eine Absage zu erteilen. Sich nicht von ihnen treiben zu lassen, von Kräften, die Ausweglosigkeit proklamieren. Alles andere ist ein eigener, fragwürdiger Extremismus.

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