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Der Doppelte Antisemitismus

Die Debatte um Antisemitismus in Deutschland bekommt immer neue Facetten, je weiter wir uns vom 7. Oktober, dem Tag des großen Hamas-Angriffs auf Israel und Israelis, entfernen. Und es bleibt notwendig, diese Debatte in all ihren Facetten zu führen. Weil sich der Nahost-Konflikt weiter hochschaukelt. Und sich nur eine gefühlte Pause ergibt. In der es möglich ist, Geiseln aus der Gewalt der islamischen Terroristen freizubekommen. Und weil sich mit Blick auf das Drama zwischen Israel und Palästinensern im Land der Holocaust-Täter Wunden offenbaren, die immer weiter und tiefer aufreißen. Die alte und neue Ängste hervorbringen. Und zeigen, wie wenig belastbar aller Schrecken vernäht wurde.

In dieser Debatte schälen sich aus meiner Sicht zwei wesentliche Stränge des Antisemitismus heraus. Der eine Strang ist der Antisemitismus, der sich gegen Jüdinnen und Juden als solche, als gläubige Menschen richtet. Der Ihnen und ihrem Staat das Existenzrecht abspricht. Der sie stigmatisiert und diffamiert. Der sie beleidigt, seelisch und körperlich angreift. Der ihre Synagogen und Friedhöfe schändet. Der ihnen alte Furcht vor neuer bedrohlicher Verfolgung macht. Gegen den wir uns wenden müssen. Nicht nur aus historischer Verantwortung, sondern auch in unserem Mensch- und Menschlichsein. Gegen den wir uns unabhängig vom politischen Kontext im Nahen Osten richten müssen.

Der andere Strang des Antisemitismus ist subtiler. Und fällt nicht auf Anhieb auf. Weil er als Anti-Antisemitismus daherkommt. Weil er vom derzeitigen Mainstream der Solidarität mit Jüdinnen und Juden verdeckt wird. Dieser Antisemitismus, der kruder Weise von vielen gepflegt wird, die Antisemitismus bekämpfen wollen, suggeriert, dass Jüdinnen und Juden mit dem Staat Israel und seiner Regierung identisch ist. Er spricht Jüdinnen und Juden in Israel ab, in der Lage zu sein, zwischen ihrer religiösen und ihrer nationalen Identität unterscheiden zu können. Er spricht ihnen ein demokratisch-emanzipatorisches Selbstbewusstsein ab. Das allemal Kritik am Staat Israel und seiner Regierung zulässt.

Hunderttausende Israelis, auch und gerade Jüdinnen und Juden sind in den vergangenen Monaten auf die Straße gegangen, weil sie um das israelische Selbstverständnis fürchten. Und fürchten, dass der Staat in Form seiner Regierung die Rechtsstaatlichkeit und damit demokratische Fundamente gefährlich untergräbt. Hunderttausende Israelis, auch und gerade Jüdinnen und Juden, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten für eine friedliche Aussöhnung mit den Palästinensern eingesetzt. Rechte für sie gefordert, wie sie, worauf sie hinweisen, auch Israel garantiert werden und werden müssen. Sie sind nicht einverstanden damit, wie mit den palästinensischen Nachbarn umgegangen wird.

Wenn jetzt in Deutschland jede Kritik am Staat Israel und seiner Regierung, zumal dann, wenn sie vehement die Haltung des Staates gegenüber den Palästinensern einschließt und verurteilt, mit Antisemitismus gleichgesetzt oder in seine Nähe gerückt wird, dann wendet sich das auch gegen Jüdinnen und Juden in Israel. Zumindest gegen die, die nicht dem ultra-orthodoxen Lager angehören. Die einen säkularen Staat wollen, der auf Demokratie, Rechtsstaat und Emanzipation seiner Bürgerinnen und Bürger abhebt. Der sich nicht allein vor dem Hintergrund des Holocaust messen lassen muss. Sie möchten in einem aufgeklärten Staat leben, einem Staat der Aussöhnung, nicht der Konfrontation.

Ich würde behaupten, das ist die Mehrheit in Israel. Eine Mehrheit, die den Horror, den radikale Islamisten in ihr Land steuern, fürchtet. Die in der Hamas zu Recht eine islamistische Terror-Organisation sieht. Die Angst um ihr Leben und das ihrer Angehörigen und Mitmenschen hat und leider haben muss. Die aber auch will, dass dem Horror mit politischer Vernunft und Weitsicht begegnet wird. Dass sie und ihre palästinensischen Nachbarn von allem befreit werden, was einem versöhnlichen Neben- oder Miteinander entgegensteht. Wer das nicht realisiert und sich dieser Tage in einseitige Solidaritätsbekundungen kleidet, der vergeht sich an dieser vor allem jüdischen Mehrheit.

Wenn sich Alles, was sich gegen Jüdinnen und Juden, gegen ihr Selbstverständnis und ihre Selbstbehauptung richtet, Antisemitismus ist, dann ist die unkritische Solidarität mit dem Staat Israel und seiner Regierung antisemitisch. Weil diese Art Solidarität den Willen der Mehrheit der israelischen Bevölkerung missachtet. Weil sie Jüdinnen und Juden und ihr auch jüdisches Selbstbewusstsein diskreditiert. Weil sie, indem sie dem Staat und seiner Regierung unkritisch beisteht, den Menschen nicht die Rolle zugesteht, die sie einfordern. Weil sie Jüdinnen und Juden mittelbar entmüdigt. Ist das kein Antisemitismus? Werden mit dieser schlichten Solidarität Jüdinnen und Juden nicht lächerlich gemacht?

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