Ich habe in diesen Tagen wiederholt ein mir wichtiges Buch in die Hand genommen. Judas, israelisch-jüdischer Autor: Amos Oz. Wer darin liest, verliert die Angst, seine Gedanken zum aufkeimenden Antisemitismus in Deutschland (und der Welt) zu wiegen. Den Antisemitismus zu benennen und in aller Schärfe zu verurteilen. Sich aber nicht zugleich unter das Kuratel, unter die öffentlich immer harschere Zensur zu stellen, die besagt, dass sich angesichts des Hamas-Terrors jede Kritik an dem, was Israel als Antwort an Zerstörung und Leid über den Gazastreifen bringt, quasi verbiete. Moralisch und politisch. Oder man macht sich schuldig. Wieder. Und ist damit abgestraft in einer Debatte, die teils für sich schon Strafe genug ist. Weil das Komplexe aufs Schlichte gedreht wird.
Judas erzählt vom Zwiespalt der Jüdinnen und Juden in Israel. Vom Zwiespalt in Fragen ihres Glaubens, ihrer Religiosität. Und vom Zwiespalt, was ihr Verhältnis zum Staat Israel betrifft, seiner jahrzehntelangen Politik, die seit der Gründung nie unwidersprochen, nie unangefochten blieb. Dieser Zwiespalt, die Diversität im Jüdischsein und im Politischsein, in den eigenen Reihen, gegenüber den politischen Führern des Landes, gegenüber den arabischen Nachbarn, den Palästinensern ist es, den Amos Oz in dem Buch zum Ausdruck bringt. Den Zwiespalt, die Zweifel. Damit verbunden die Diskussionen. Oz kennt das von sich selbst. Wie es íst, sich zu positionieren, sein religiöses wie sein politisches Selbstverständnis zu finden. Und es gegebenenfalls gegen Angriffe verteidigen zu müssen.
Das Buch, Amos Oz, leistet, was die aktuellen Debatten um Antisemitismus und die Haltung zum Staat Israel und seiner Politik nicht hergeben, nicht hergeben wollen. Den Jüdinnen und Juden in unserem Land Schutz vor Angriffen zu bieten. Sich vor sie zu stellen, wo ihr Existenzrecht und das des Staates Israel bedroht wird, aus allen möglichen Richtungen, nicht nur durch islamistische Extremisten und Fanatiker, auch und weiterhin aus dem rechtsextremen Lager. Sich vor sie zu stellen auch als gläubige Jüdinnen und Juden. Und zu realisieren, dass die Menschen jüdischen Glaubens Opfer und Opfer-Nachfahren sind und zugleich divers denken und handeln. Die viele Bilder, nicht ein einziges Bild darstellen. Und ernst genommen werden wollen.
Im diesem Sinne verhalten sich Jüdinnen und Juden auch als politische Menschen durchaus divers. Sie streiten wie Christen und Muslime, um ihre Rolle in der Welt, in ihrem Staat und auch um ihre Rolle in Deutschland. Während da der eine ist, wie dieser Tage der Vize-Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, der die Teilnahme an einer Kundgebung in Köln ablehnte, obschon neben dem Blick auf das Leid der Palästinenser in Gaza explizit das Existenzrecht Israels betont wurde, gibt es den anderen: den israelischen Historiker Tom Segev, der im Spiegel eine differenzierte Betrachtung israelischer Politik lieferte. Würde in Deutschland jemand das Gleiche sagen, er würde den geballten Unmut des Zentralrats ernten und ins antisemitische Abseits gestellt.
Tom Segev, der im Spiegel-Gespräch nicht sonderlich hoffnungsvoll klang, was Auswege aus der Katastrophe betrifft, die derzeit den Nahen Osten erschüttert, nennt den Terror der Hamas fürchterlich brutal und bestialisch – und ist dezidierter Kritiker der israelischen Regierung. Er hält sie für rechtsradikal, rassistisch und antidemokratisch. Segev ist Sohn deutsch-jüdischer Eltern. Man mag über ihn streiten, niemand würde ihn jedoch einen Antisemiten nennen. Warum werden dann Menschen, die in Deutschland leben und Segevs Ansicht teilen, antisemitisch gestempelt? Braucht es die Debatte hierzulande, sich wiederholt von deutscher Schuld reinzuwaschen, in dem sie andere in den Schmutz des widerwärtigen Antisemitismus zieht?
Nein, ich nehme es denen, deren demonstrative Empathie es nicht zulässt, Empathie mit allen Opfern des Konflikts zu zeigen, den Opfern innerer Kämpfe und den Opfern der Angriffe von außen, Israelis und Palästinensern, nicht ab, dass es ihnen wirklich darum geht, Antisemitismus zu bekämpfen. Weil, wer Antisemitismus bekämpft, alles bekämpfen muss, was einem Menschsein und Menschlichsein widerspricht, was Menschen verunglimpft, angreift, tötet. Weil Antisemitismus teil eines Wesenszugs ist, dem grausamer, vernichtender Judenhass innewohnt – mit ihm allerdings auch eine zutiefst unmenschliche Überheblichkeit, die niemand anderen gelten lässt, als sich selbst und Seinesgleichen. Die sich zuerst gegen Juden richtet, dann gegen andere.
Margot Friedländer, über 100 Jahre alt, die allen Antisemitismus erlebt hat in Deutschland und noch erlebt, hat sich von den Veranstaltern eines Israel-Solidaritätsabends im Berliner Ensemble, nicht instrumentalisieren lassen für eine Sicht. Es gebe kein jüdisches, muslimisches oder jüdisches Blut, sagte sie. Um ein kurzes Statement gebeten. Es gebe nur menschliches Blut. Deswegen mahnte sie, Mensch zu bleiben bei all dem, was derzeit passiert. Sie wählte ihre Worte bedacht und bewusst. Und setzte an diesem denkwürdigen Abend, der denen auf der Bühne und denen in den Rängen Einseitigkeit abtrotzen wollte, den einzigen Kontrapunkt. Der an alle erinnert, die derzeit in die Mühlen von Terror und Entgegnung geraten, leiden und sterben. Wie ihre Zuversicht.

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