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Vom Vorauseilenden Gehorsam

...eine seltsame Mischung aus Überforderung und Feigheit hat Zeit-Autor Hanno Rauterberg die mit der Antisemitismus-Debatte in Deutschland einhergehende Cancel-Kultur genannt. Eine Kultur, die derzeit dem kulturellen Diskurs zunehmend den Atem nimmt. Ihn maßregelt. Eine Kultur, die zunehmend erlaubt, Autoren und Künstler, die nicht stramm dem Kurs einer vermeintlich einzig möglichen Solidarität mit einem politisch streitbaren Staat Israel folgt, auszugrenzen, zu diffamieren und diskreditieren, mundtot zu machen und zu Personen non grata zu erklären. Ich kann darin nicht Überforderung sehen, nicht Feigheit. Ich sehe hier eine Absicht am Werk, die sich den Mantel der Selbstgerechtigkeit umgehängt hat.

Der sich derzeit breit machende Antisemitismus ist unerträglich. Der verbrecherische Hamas-Terror mit oder ohne Kontext nicht tolerierbar. Jede Parole, die ihn offensiv gutheißt, eine Parole wider die Menschlichkeit. Wider das Existenzrecht der Jüdinnen und Juden; hier, wo sie friedlich leben dürfen sollten. Und in Israel, dem Staat, in dem sie seit Jahrzehnten nicht ohne Angst leben. Jedes Opfer muss uns auffordern, ihnen beizustehen. Wie den Palästinensern im Westjordanland und in Gaza. Die Opfer des Hamas-Fanatismus sind, aber auch Opfer einer Form von, ja: Vergeltung, die ihrerseits eine Schneise der Verwüstung hinterlässt. Physisch und psychisch.

Soweit, so bitter, so dramatisch, so Verzweiflung schürend. Und hilflos. Lassen wir angesichts der Gegenwart – dem, was ist – die Vergangenheit – das, was war – erinnern. Dem Antisemitismus unter dem Nazi-Regime, bei dem die Leben von sechs Millionen Jüdinnen und Juden ausgelöscht wurden, stand ja weitere Verheerung zur Seite. Die Verfolgung aller, die nicht dem Hakenkreuz huldigten. Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen, Sinti und Roma, Homosexuelle. Kulturschaffende, die nicht die faschistische Staatsräson teilten, wurde aussortiert, aus dem Weg geräumt. Bücher gingen in Flammen auf, Seelen verbrannten. Über alles legte sich der Mehltau der Angst, der Denunziation.

Nachdem die west-östlichen Allierten dem deutschen Faschismus ein Ende gesetzt hatten, nachdem andere als die Deutschen die Deutschen von der Vernichtungspolitik befreit hatten, nahm die Verfolgung kein Ende. Während die KPD und ihr nahestehende Organisationen verboten wurden, saßen Nazis weiter in Behördenstuben, unterrichteten in Schulen, fanden Platz in Chefetagen der Medien. Weit mehr als ein Jahrzehnt dauerte es, bis, nach den Nürnberger Prozessen, deutsche NS-Verbrecher von der deutschen Justiz zur Rechenschaft gezogen wurden. Es folgte der Radikalenerlass (Berufsverbot) für kommunistische Briefträger, Lehrer, bis 1991 angewendet. Das Flüchtlingsheim in Hoyerswerda griffen in besagtem Jahr freilich andere an.

Was ich meine: Angesichts dieser Geschichte sollte man konsequent(er) im Vorgehen gegen alles sein, was der Demokratie abträglich und etwa dem Antisemitismus zuträglich ist. Und zugleich offen bleiben für konstruktiven Diskurs. Verdacht ist nicht Gewissheit. Widerspruch nicht Verrat. Wer nachdenkt, macht sich nicht der Gedankenlosigkeit schuldig. Wer zwei Seiten sieht, ist nicht auf einem Auge blind. Angesichts unserer deutschen Vergangenheit verbietet sich jeglicher Judenhass, aber auch maßlose Diskreditierung, der Ausschluss und das Verbot von Kunst, Literatur, Musik, Theater. Wer Geschichte ernst nimmt, sollte der Meinungsfreiheit Vorrang geben vor ihrer Kujonierung.

Das allerdings ist, so fürchte ich, gerade eine Art Kultursport geworden. Es wird nicht die Frage gestellt, wer gegebenenfalls streitbare, auch sehr streitbare Meinungen und Meinungsunterschiede, Ansichten und Sichtweisen aushält, ausfechtet, am Ende, mag sein, die Bühne verlässt. Es wird sich damit gebrüstet, dass man schon bei kleinsten Zweifeln und Funden, die Zweifel bestärken könnten, die Reißleine zieht. Dass man vor die Diskussion standhaft den Riegel gesetzt hat, dass man nicht den Keim einer Debatte gesät, sondern sie im Keim erstickt hat. Der, der auslädt, scheint integrer, als der, der einlädt. Der furchtloser, der die Angst vor den Mut stellt. Es ist der vorauseilende Gehorsam, der abbsehbaren nacheilenden Opportunismus verhüllt.

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