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Macht der Wahllosigkeit

Alles sieht nach Besonnenheit aus. Nach dem Wunsch, die Fühler der Demokratie weiter auszustrecken. Und wenn der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz den Ungarn den Weg zeigt, Ressentiments geschickt zu verstecken, um der Ukraine den Weg zu Beitrittsgesprächen mit der Europäischen Union zu öffnen, dann gilt das als ein intelligenter Schachzug. Was aber ist gewonnen? Die Ressentiments bleiben. Der Widerstand gegen die Milliardenhilfen für die Ukraine auch. Die Probleme sind verschoben, aber nicht aufgehoben. Die Ukraine ist ein Treppchen nach oben geklettert. Das Ansehen des trickreichen Olaf Scholz auch.

Das war’s dann freilich auch schon. Und wundert im Grunde nicht. Die EU ist, das kennen wir, auf zweifelhaftem Beutezug. Mitglieder, denen Rechtsstaat und Demokratie am Allerwertesten vorbei gehen, werden besänftigt und verschont, wenn Aspiranten in die Gemeinschaft drängen. Und Aspiranten erhalten Signale der Hoffnung, auch wenn sie bei weitem nicht die Regularien der Zuversicht erfüllen. Den einen wird die Freundschaft zu Russland nachgesehen, den anderen ein aussichtsloser Krieg mit wirtschaftlich weitreichenden Folgen. Hauptsache Brüssel hat mal wieder so getan, als ginge es mit Europa voran

Die Bigotterie dieser kurzsichtigen Strategie ist nicht zu überbieten. Nach außen hui, nach innen egal. Dass man am Ende mehr mit Abmahnungen und Ermahnungen, mehr mit Blockadegehabe und dem Stopfen von Milliardenlöchern zu tun hat, als mit konstruktiver Weitsicht, wird hingenommen. Um den USA zu zeigen, dass Europa noch wer ist, und dem Kreml, dass man Russland immer näher auf die Pelle rückt, ist von der Leyen & Co kein Schachzug zu mittelmäßig. Dass die Europäische Union mittlerweile nicht nur an den Rändern politisch und wirtschaftlich ausfranst, gehört zum Chic der Gemeinschaft.

Das Inventar der Europäischen Union bedürfte eigentlich einer Inventur. Das Voranschreiten der Rechten in Europa, eine hilflose wie menschenfeindliche Migrationspolitik, die Aushöhlung von Grundrechten, ökonomisch bedrohliche Belastungen, desaströse militärische Feldzüge – wohin man schaut, bietet die Gemeinschaft ein schlimmer als jämmerliches Bild. Doch statt mal einen Schritt zurückzutreten und sich das Desaster anzuschauen, wird drüber weggefegt. Genau das ist beim Gipfel mit seinem dem Ungarn-Trick und den Ukraine-Avancen geschehen. In Scholz-Manier: Augen zu und größer.

In einem Artikel mit der Überschrift Der Macho von Belgrad hat Die Zeit dieser Tage den nächsten Sündenfall, den sich die EU an Land zu ziehen gedenkt, beschrieben. Sein Name: Aleksandar Vučić. Schon Scholz-Vorgängerin Angela Merkel hat den Wert des antidemokratischen Hardliners in geradezu liebevoller Weise bemessen, ihre Parteifreundin von der Leyen kriegt sich nicht mehr ein. Wichtiger, als dem Mann klarzumachen, dass seine Politik im Innern und etwa bezüglich des Kosovo jegliche Aussicht auf EU-Nähe verhindert, ist, nach Kroatien und Slowenien jetzt den ganzen Balkan an Brüssel zu binden, um jeden Preis.

Die Europäische Union ist, wenn man es genau nimmt, mit ihrer Politik der Nachsicht und Expansion dabei, sich überflüssig zu machen. Was soll eine Gemeinschaft, die zusehends politisch erodiert? Die überfordert und überstürzt Fehler auftürmt, die kaschiert oder gar noch als Zeichen einer in vielerlei Hinsicht offenen und lernfähigen Union kultiviert werden. Weil Größe ohne Fehler nicht zu haben ist, aber immer noch besser sei, als sich in nachhaltiger Kärrnerarbeit an Demokratie, Rechtsstaat und wirtschaftlicher Wetterfestigkeit zu orientieren. Und scheinbar mutige Sprünge hasenfüßig zu scheuen.

Nach uns die Sintflut. Das ist das Programm, das in diesen Zeiten abgespult wird. Krumme Haltungen zu Kriegen, die ohne erklärte oder sehr kurzsichtige Ziele geführt werden. Das Bekennen von Solidaritäten, die ohne jegliche politische Feinarbeit am Komplexen hinweg erklärt und eingefordert werden. Schleimereien gegenüber Staaten, deren Regierungen sich mit denen verbunden fühlen, die gestern noch vor dem Den Haager Strafgericht standen. Nachsicht mit Flüchtlingsfeinden, die vor ihrer Küste Schiffeversenken spielen. Das ist das ehrenhafte Portfolio, das Brüssel zu bieten hat.

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