Kürzlich habe ich den Film Der Fall Collini gesehen. Nach dem Roman von Ferdinand von Schirach. Die Handlung mit ihren ungeheuerlichen Verzweigungen hat mich bewegt, bestürzt. Darin geht es auch um ein Gesetz, das mir nicht mehr so präsent war. Das Dreher-Gesetz. Das vielen eine Art Betriebsunfall deutscher Justizgeschichte sein mag. Anderen ist es eine politisch gewollte Farce. Das Gesetz machte aus Nazi-Mördern und ihren opportunistischen Helfern und Helfeshelfern Totschläger, die durch Verjährung ihrer gerechten Bestrafung entkommen und sich in deutsche Normalität einfädeln konnten.
Das schlimme daran ist, dass damals, Ende der 1960er Jahre, nicht nur die Kanzler-Kiesinger-Union ihr Plazet gab. Sondern auch die SPD – unter dem damaligen Bundesaußenminister Willy Brandt. Dass das Gesetz vordergründig so genannte Bagatelldelikte entkriminalisieren sollte, nehmen manche als Entschuldigung dafür, dass der Nebeneffekt – die Entkriminalisierung von NS-Straftätern – irgendwie durch den Rost fiel. Wie aber kann das passieren in einer Zeit, in der die Frage der Verjährung von Nazi-Verbrechen omnipräsent war? Und dass gerade Sozialdemokraten ihre Zustimmung dazu gaben.
Das Dilemma reiht sich in eine lange Kette der Verfehlungen und Verharmlosungen ein. Die deutschen Behörden, vor allem auch die der Justiz, waren haufenweise von alten Nazis besetzt. Wer ihnen ihre Taten, begangen im Geiste des Antisemitismus und Faschismus, nicht nachsah, hätte gewahr sein müssen, dass die Alt-Nazis an Schrauben drehen würden, die sie davonkommen ließen. Wer das duldete, versuchte, sich vor der Frage zu drücken, inwieweit der Antisemitismus nachwirken oder wiederaufleben würde. Mitsamt allerlei anderen widerlichen Begleiterscheinungen. Die Folgen sind dieser Tage zu besichtigen.
Die Schlussstrich-Mentalität war nicht nur im rechten und konservativen Lager verbreitet, die Mär vom Neuanfang allgemeine Selbstsuggestion. Die Politik putschte sich auf mit Prosperität und Fantasien über das unverrückbare Geheiltsein von der Vergangenheit. Wie schwer einem Fritz Bauer die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen gemacht wurde, zeigt, wie lernfähig man war. Gar nicht. Und als die 60er Jahre rum waren, absorbierten RAF&Co die Aufmerksamkeit. Das bürgerliche Lager war auf dem rechte Auge blind. Und ist es bis heute. Arger noch: Es gibt mit seiner Politik Parteien wie der AfD Auftrieb.
Die Flüchtlingspolitik und ein kruder Nahost-Dogmatismus zeigen, wie sehr man inzwischen dazu neigt, sich auf Holzwege zu begeben. Das, was mit der AfD und ihren Anhängern und Mitläufern droht, wird verniedlicht in dem Maße, wie man sich auf neue Schauplätze begibt: Statt sich mit der aufstrebenden Rechten zu befassen, werden Kunst und Kultur in einem Maße gebeugt, das Reichskulturkammer-Qualität hat. Wer etwa Israel für seine Politik kritisiert, ist quasi automatisch Antisemit. Ein notwendiger Diskurs wird einfach verweigert. Diffamierungen und Verbote werden wieder hoffähig. Merkt das niemand oder will das niemand merken?
Es wird gar nicht mehr danach geschaut, wer wo Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verletzt. Wer wo und wie Terror anwendet und wer, in maßloser Gegenwehr, seinerseits das Völkerrecht bricht. Es werden vor dem Hintergrund alter Schwächen, dass man nämlich die Nazis nicht wirklich auf ewig ausgeschaltet hat und ihre Erben sich beträchtlicher Umfragewerte beglückwünschen können, neue Empörungsfelder gesucht, die Gefahrenschablonen hergeben. Es ist ein Fluch, in den sich deutsche Politik verirrt. Weil man nicht weiß, wie man rechts aufräumen kann, wird fadenscheinig auf andere eingeprügelt.
Probleme über reine Formalismus-Debatten zu erörtern, kann streitbar sein. In diesem Fall ist es angebracht, Art und Weisen, wie man mit (Israel-)kritischer Literatur und Kunst umgeht, durchaus auf formale Prüfstände zu stellen. Denn eben die Form des Umgangs im Meinungsgefecht lässt durchaus auf Wesenszüge und Gesinnungen schließen. Es wird schnell markiert und abgeurteilt, und dann geradewegs aussortiert. Das kennen wir, sorry, von denen, die ehedem genau so handelten. Gegen Jüdinnen und Juden – und alle, die sonst nicht konform erschienen. So freilich beschwört man alte Geister, nicht aufgeklärten Geist.
Das streitbare Erbe deutscher Debatten-(Un)Kultur ist, so befürchte ich, in dogmatischen Sphären festgefahren. Das gilt für viele politische Lager, aber eben auch für das Lager derer, die jetzt vorgeben, Antisemitismus bekämpfen zu wollen. Dieser Umgang miteinander, dieser gnaden- und diskussionsfeindliche Angang ist ein nicht aus der Welt geschafftes Signum deutscher Mentalität. Wir schaffen es einfach nicht, uns der Spannbreite des Denkens in Diskussionen, auch Streit, zu stellen. Sondern glauben, wenn wir Schluss sagen, dann wäre auch Schluss. Aber das ist ein Trugschluss. So werden die Menschen nicht klüger, so bleiben Menschen ewig dumm.

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