Lion Grote. Den Namen muss man sich merken. Wirklich. Allerdings nur für einen klitzekurzen Augenblick. Der Journalist leitet den Newsroom des Berliner Tagesspiegel. Am Wochenende war er allerdings in Malmö. Anlässlich des Eurovision Song Contest. Was er dazu absonderte, ist freilich an, sorry, journalstischem Unsinn nicht zu überbieten. Er empörte sich darüber, dass der Wettbewerb immer stärker politisch aufgeladen würde. Und darüber zu Grunde gehen respektive zu Grunde gerichtet werden könnte.
Um nicht ganz ahnungslos dazustehen, merkt Lion Grote an, dass der ESC und seine Vorgänger ja nie ganz unpolitisch waren. Und nennt Beispiele. Doch jetzt, angesichts der Nahost-Konflikts, bekäme das Ganze eine neue Dimension. Ach ja? Für wahr gibt es ausgesprochen unschöne Arten und Weisen, in denen sich, auch mit Blick auf den ESC, die einen oder die anderen Lager positionieren, artikulieren und ihrem Unmut, bisweilen auch ekelhafter Stigmatisierung, Dogmatismus und widerwärtigem Hass Ausdruck geben.
Aber warum, bitte sehr, sollte sich die Kunst, die Kultur, auch der ESC, weniger radikalisieren, als es die Welt drum herum tut? Weil ein Wettbewerb wie der ESC die komplexe Weltlage mit ihren politischen Trennlinien, ideologischen Sichtweisen nicht abbilden und darstellen könne, wie Lion Grote insinnuiert? Das könnte man meinen, wenn man den ewig gleich wummernden Bühne-Krempel hört und sieht, der sich da auf der ESC-Bühne abspielt. Aber warum sollte dies Publikum und Spektakuleuren politisches Verhalten absprechen?
Wettbewerbe wie der ESC würden von innen und außen zunehmend instrumentalisiert, schreibt Grote. Und mahnt an, Gemeinsamkeiten statt das Trennende zu betonen. Ach ja? Im Kleinen, wenn wir den ESC mal als solches betrachten, soll also gelingen, was extremen Kräften im Großen nicht gelingt? Wie naiv muss man eigentlich sein, um das nahezulegen. Russland und die Ukraine, Hamas und Netanyahu machen derzeit vor, wie es aussieht, wenn das Kriegerische vor dem Friedlichen Vorrang hat.
Wenn also die israelische Teilnehmerin eines Gesangswettbewerbs ausgepfiffen wird, ist das in etwa so skandalös oder aber akzeptabler Stream in einer konfliktbelasteten Welt wie der Ausschluss russischer Künstlerinnen und Künstler von deutschen Bühnen. Weder die eine noch die anderen sollten den Kopf für das hinhalten müssen, was Regierungen zuhause anrichten. Sie werden, das ist Teil der Tragödie, dennoch in Sippenhaft genommen. Das ist nicht fair, das ist anmaßend. Aber es ist andererseits auch nicht verwunderlich.
Kunst und Kultur werden ja tatsächlich gegenwärtig unter der Politik begraben. Oder werden wahlweise nicht als diskurvsiver Bestandteil gesellschaftspolitischen Lebens akzeptiert – oder notfalls hingenommen. Da rennen hordenweise Menschen mit Etikettenklebern durch die Lande. Wer etwa pro-palästinensisch ist, ist – Etikett! – antisemitisch. Bumms, aus! Wer davon spricht, dass das Etikettenschwindel ist, ist – Etikett! – Antisemit. Aber, so die triviale Frage, sonst gern gestellt: Ist da auch wirklich drin, was drauf ist?
Die Auseinandersetzungen um das, was Kunst und Kultur dürfen, nämlich auch Stellung beziehen, und das, was die dürfen, die draußen Kunst und Kultur labeln, toben an allen Ecken und Orten. Entweder wir schmeißen uns rein ins Gefecht. Oder, wir wünschen uns, wie Lion Grote, dass wir einen auf Friede-Freude-Eierkuchen machen. Der Komplexität der Weltenläufte nicht gewachsen. Aber auf der einen Seite quasi Bekenntnisse zu verlangen (russische Musiker) und auf der anderen Seite Pfiffe zu skandalisieren, ist unseriös.
Mein Plädoyer: Lassen wir Räume für Bekenntnisse UND Proteste. Es gibt auf allen Seiten genügend Gründe zu streiten.Versuchen wir, der Stigmatisierung, den Dogmatikern und dem Hass Einhalt zu gebieten. Aber versuchen wir zugleich, der Auseinandersetzung über die Konflikte in der Welt nicht nur Raum zu lassen, sondern bewusst Raum zu geben. Würgen wir sie nicht ab, sondern fördern sie, weil nur daraus Lösungen entstehen. Und weil nur über diesen Weg das Trennende, wenn alles gut läuft, zu Gemeinsamkeiten führt.

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