Geschrieben am 9. Oktober. An diesem Tag vor 50 Jahren starb Oskar Schindler. Der Mann, der Hunderte Juden vor dem Tod in nazi-deutschen Vernichtungslagern gerettet hatte. Ein Mann mit streitbarer Moral, wie berichtet wird. In einem war er unstrittig: In seinem Willen, Menschen, die der Nazi-Maschinerie ausgesetzt waren, in Sicherheit zu bringen. Sein pragmatisches Wesen half ihm dabei. Sein teils naives Kalkül. Seine Zuversicht, dass er auch in prekären Situationen schaffen würde, was andere für unmöglich hielten. Bedrohte Leben zu bewahren.
So spektakulär, wie dies, lange nach Ende des Nazi-Regimes, filmisch aufgearbeitet wurde, so unpretentiös handelte er. Sein Dasein nach der unerträglichen Zeit des Holocaust war denn ebenso wenig Aufsehen erregend. Bescheiden. Die überlebenden Juden dankten ihm seine Art. Sie boten ihm Obdach in Jerusalem, wo er einen Teil seines Lebens verbrachte. Der 9. Oktober, das sind zwei Tage nach dem 7. Oktober. Dem Terrorangriff der Hamas auf Israel. Dem 2023 Hunderte zum Opfer fielen. Unter ihnen Frauen und Kinder. Dem Hass ausgeliefert.
Seitdem tobt nicht nur ein neuer Krieg im Nahen Osten. Seitdem scheinen endgültig alle Maßstäbe der Menschlichkeit abhanden gekommen zu sein. Auf, leider, allen Seiten. Als hätten die Betreiber des Krieges nur darauf gewartet, wird das Tor zur Unversöhnlichkeit im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern derart weit aufgestoßen, dass eine friedliche Lösung für immer illusorisch scheint. Alte Dogmen werden mobilisiert, um das Grauen zu flankieren. Sie wirken wie ein Lauffeuer, das nicht mehr, das nie mehr zu löschen ist.
Zu den alten Dogmen gehören propalästinensische Extreme, wie das, dem Land Israel und damit den Menschen, die darin wohnen, das Existenzrecht zu entsagen. Zu den alten Dogmen gehört zugleich (ich sage bewusst nicht: aber) auch, alles, was an israel-kritischen Positionen, auch wenn das einige nicht wahrhaben möchten, laut wird, unter Antisemitismus-Vorwürfe zu stellen. Und damit jedem rationalen Diskurs den Boden zu entziehen. Wer Israel-Kritik in die Nähe einer Holocaust-Gesinnung rückt, muss nicht mehr diskutieren.
Das ist, im Umkehrschluss, nichts anderes, als das, was extremen Palästinensern zur Last gelegt wird. Die Israel mit den Juden und Juden mit Israel gleichsetzen. Israelbezogener Antisemitismus nennt sich das immer häufiger perfide genutzte Konstrukt, mit dem Debatten darüber, was politisch und menschlich nötig ist, abgewürgt werden. Der Staat Israel muss sich nicht mehr rechtfertigen. So, wie auch viele Palästinenser meinen, sie müssten sich angesichts der Ungerechtigkeit, die sie erfahren haben, für nichts rechtfertigen.
Doch jeder, welchen Glaubens auch, sollte sich veranwortlich fühlen. Kein Glauben, keine Geschichte rechtfertigt, dass Hass in die Vernichtung tausender Menschenleben mündet. Ob von Seiten der Hamas oder von Seiten der israelischen Regierung. Kritik ist nicht nur erlaubt, sondern dringend erforderlich, wenn Terror und Gewalt zu Zerstörungen führen, wie man sie im Nahen Osten erleben muss. Ungeachtet von Geschichte und Glauben. Beides kann erklären. Aber es rechtfertigt nicht, sich notwendiger Menschlichkeit zu entziehen.
Die vordergründigen Terminologien, mit denen die Debatten auch in Deutschland befeuert werden, sollen ablenken. Oft sind Antisemitismus-Vorwürfe berechtigt. Oft freilich soll die Weise, in der sie erhoben werden, die Frage, wer inwieweit politisch und moralisch menschlich im Nahen Osten handelt, ausklammern helfen. So wie Jüdinnen und Juden auf deutschen Straßen in den Augen von Propalästinensern für das Vorgehen der israelischen Regierung herhalten sollen, sollen israelkritische Kräfte für den Hamas-Terror herhalten.
Es ist allerdings nicht verwunderlich, dass Polarisierungen immer beliebter werden. Sie beruhen auf dem Wunsch, seinen Verstand nicht sonderlich bewegen zu müssen. Wer polarisiert und eine auf Versöhnung und weitreichende Lösungen zielende Mitte an extreme Ränder drückt, braucht nicht mehr zu argumentieren. Alles hat, von den jeweiligen Polen aus betrachtet, seine Berechtigung. Der Terror der Hamas – und der, ja: Terror einer Regierung Netanyahu. Und insofern gibt es auch kein Zurück mehr aus den ausgehobenen Gräben.
Oskar Schindler war kein Mann, der Gräben aushob. Er war ein Mann, der zutiefst menschlich handelte. Der keine Dogmen bemühen musste, um zu tun, was andere nicht taten. Oskar Schindler wäre, so erlaube ich mir zu vermuten, erschrocken darüber, wie kalkuliert ein Konflikt von seinen Protagonisten instrumentalisiert wird. Und wie kalkuliert Begriffe bemüht werden, um jedweden Diskurs über mögliche gemeinsame Wege abzuwürgen. Er war ein Mensch, auf menschliche Hilfe bedacht. Nichts weiter – und damit doch sehr viel.

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