In Berliner Ämtern stauen sich die Anträge, lautet die Headline im Tagessspiegel. Unterzeile: Pflegebedürftige warten teils monatelang auf Sozialhilfe. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es unter Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung alles staatlichen Gewalt. Wie, bitte schön, passt die medial geschilderte Realität mit dem obersten Verfassungswert, als welcher die Menschenwürde ausgewiesen wird, zusammen? Klare Antwort: Gar nicht. Ich frage mich schon seit jeher, warum eigentlich niemand, der etwa monatelang auf Sozialhilfe warten muss, vors Bundesverfassungsgericht zieht. Oder warum dies Angehörige der Behörden-Opfer nicht tun. Vielleicht habe ich auch die Klagewelle Richtung Karlsruhe verpasst. Dann bin ich allerdings auf das Ergebnis gespannt. Denn mit der grundgesetzlich verbrieften Menschenwürde hat die Wirklichkeit nichts zu tun.
Wir leben in einem Land mit beträchtlichem Bruttosozialprodukt. In dem freilich je weniger zum Wohlergehen Aller beisteuern, desto höher ihre zu versteuernden Einkommen liegen. Umso erstaunlicher ist es, dass es am Lebensabend jene trifft, beim Staat regelrecht um Hilfe zu betteln, die vermutlich am steuerehrlichsten waren. Wenn sie denn einen Job hatten. Und den über Jahrzehnte hinweg. Auch das ist ja in unserem Staat nicht garantiert. In dem Unternehmen, die frei über ihr Personal verfügen, die ganze Bandbreite an Tricks beherrschen, um ihre Steuerlast und damit ihre gesellschaftliche Verantwortung oder das Bewusstsein dafür auf ein Minimum zu drücken. Sollen doch die Anderen, die ihr halbes Restleben lang auf staatliche Hilfe warten, mitsamt ihren Hoffnungen aufs Abstellgleis. Am Besten nehmen sie das Grundgesetz mit auf den Schredder unseres Sozialstaats. Da liegt ohnehin schon eine Menge.
Wenn gefragt wird, warum es in den Behörden so langsam läuft, kommen, ganz schnell, geübte Antworten: Personalmangel. Kündigungen, Teilzeit, Elternzeit. Quereinsteiger, Praktikanten. Eine unzutreichende Kenntnis bei Antragstellern, wie man denn an dringend benötigte Hilfe kommt. Also das Gewusel durch einen schier undurchdringlichen Formular-Dschungel. Das schwierige Verhältnis von Leistungen der Hilfe zur Pflege zu Leistungen der Pflegeversicherung mit der Folge, dass Anträge nochmal auf ihren tatsächlichen Bedarf hin überprüft werden müssten. Die Berliner Ämter, so ist zu lesen, ächzen unter den Lasten ihrer Aufgaben. Die Zustände: Rückstände. In einem Bezirk müssten Antragsteller teils mehr als zwei Jahre warten. Wenn sie am Ende überhaupt noch leben. Man weise auf die Dilemmata hin, doch nichts geschieht. Menschenwürde. Da pfeift der Staat im Zweifelsfall drauf. Dabei ist die Pflege nur ein Beispiel von vielen, bei dem das Grundgesetz ohne Unterlass mit Füßen getreten wird.
Gottseidank, so mögen viele politisch Verantwortliche meinen, ist die Menschenwürde ein schwammiger Begriff. Wo fängt sie an, wo greift sie, wo kann ihr der Staat mit seiner allgemeinen Fürsorgepflicht der Gesellschaft und ihren Mitbewohner:innen gegenüber entkommen? Wenn es konkret wird. Problem, so ist es zu lesen: Der Begriff der Menschenwürde sei nicht klar definiert. Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) verweist, da wird so richtig philosophisch geklotzt, auf einen nicht Geringeren als Emanuel Kant. Der habe erklärt: Dinge sind wertvoll, wenn wir sie brauchen können. Ein Schuh ist zum Beispiel wertvoll, wenn er passt und man mit ihm gut laufen kann. Der Schuh hat dann einen Wert. Wenn der Schuh kaputt ist, hat er keinen Wert mehr. Bei Menschen ist das anders: Der Mensch hat immer einen Wert. Auch wenn er krank ist. Auch wenn er nicht arbeiten kann. Wenn etwas immer einen Wert hat, sagt man: Es hat eine Würde. Jeder Mensch ist deshalb wertvoll, weil er ein Mensch ist. Wäre dem Staat ins Stammbuch zu schreiben.
Der aber hat Anderes zu tun, als sich um Pflegebedürftige zu kümmern. Ich meine, so richtig. Ohne aufschiebende Wirkungen. Ohne die Gründe und, ja: Ausreden, die davon ablenken (sollen), dass Menschen, die der Hilfe bedürfen, im wichtigsten aller Grundrechte verletzt werden: dem der Menschenwürde. Wenn ich sehe, worum sich die öffentlichen Debatten dieser Tage lautstark drehen: die Grenzen für andere Hilfsbedürftige aus der Welt so dicht wie möglich machen, die Bundeswehr aufrüsten für Kriege, die nicht zu gewinnen sind, ohne die Welt atomar aufs Spiel zu setzen – dann sollte es dringend sein, dass sich die Gesellschaft mit ihrer ganzen Wucht der Einsicht in Prioritäten gegen die Ignoranz des Staates gegenüber den Problemen, die etwa alte Menschen plagen, in Stellung bringt. Dann müssen sich Kräfte weiter entfalten und unterstützt werden, die im Sinn von Menschenwürde der staatlichen Gewalt Beine machen. Und sie drauf hinweisen, dass das Grundgesetz auch für staatliche Institutionen gilt.
Es ist geradezu lächerlich oder besser zynisch, dass wir einen Staat erleben, der vorgibt, ihm gehe es mit Milliarden-Aufrüstung um den Schutz seiner Bürger, während hilfsbedürftige Menschen im wahren Wortsinn auf der Strecke bleiben. Was derzeit in der Renten- und Gesundheitspolitik mit ihrer immer verheerenderen Kassenlage dräut, ist das Gegenteil von Schutz und Verantwortung. Es ist das Armutszeugnis von Regierungen, die nicht wirklich gut verstanden haben und verstehen, was im Grundgesetz steht. Kein Wunder, dass dieser Staat auch anderswo auf der Welt kleinlaut zuschaut, wie andere Rechte, etwa das Völkerrecht, ausgehebelt werden – auch dort trifft es die Schwächeren. Das Geschwätz, das immer wieder angestoßen wird, um sich selbst ohne den Hauch einer Reflexion zu vergewissern, man wolle nur das Gute, ist stets und immer wieder hohles Gerede. Solange es Headlines wie die des Tagesspiegel gibt, ist die viel beschworene Menschenwürde in unserem Land keineswegs garantiert.

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