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Europa Beschließt ZuSterben

In einer wunderbaren Kolumne hat Harry Nutt quasi eine Hommage auf all die verfasst, deren lebensspäte Verfasstheit nicht mehr auf den sicheren Pfeilern ihres Vorlebens steht: den Menschen, die an Demenz erkranken. Und in Heimen durch ihren Alltag irrlichtern. Im Teaser zu lesen: Als Krankheit ist Demenz verheerend. Als Metapher für den Zustand einer Welt in Aufruhr aber eröffnet sie Spielräume. Wie wahr ist es, wenn er von der Metapher einer Welt in Aufruhr schreibt, wie wünschenswert wahr, wenn er von Spielräumen spricht. Man hofft, dass sich das Hotel Europa, mit mit dem er seine Beschreibung fragilen Daseins vergleicht, tatsächlich noch so etwas wie Spielräume erschaffen kann. Bisweilen sieht es eher danach aus, als würde, anders als im Roman des brasilianischen Autor Paulo Coelho Veronika beschließt zu sterben, kein Fünkchen Zuversicht mehr zündbar. Auch dort geht es um das Verhältnis irrlichternder Seelen zur Realität – und umgekehrt. Und darum, inwieweit sich die Suche nach einem Fünkchen Licht im Dunkeln lohnt.

Harry Nutts Bild von der porösen Oberfläche eines Glanzes und einer Eleganz, die unter Zuhilfenahme von Rollatoren aufrechterhalten wird, trifft den Zustand europäischer Politik zunehmend genau. Die Orientierungslosigkeit, in der sich der demente Mensch irgendwie zurechtzufinden sucht, immer nach einem wärmenden Sonnenstrahl ausschauend, macht sich auch in Europa und seinen Mitgliedsstaaten und Institutionen breit. Beschwerdenlastende Phasen, erschütternde, wechselnde Befindlichkeiten, ein häufiges Nichtmalwissen, wo entlang es zum Speisesaal geht, verzweifeltes Beharren auf vermeintliche Gewissheit, täuschende Erinnerung, Vergesslichkeit, ein Ende, das sich Zeit lässt: Bilder, die Nutt vom Heimleben zeichnet. Und die so auf aufs erodierende Europa passen. Es kommen einem die Tränen, nicht nur, wenn man selbst erlebt hat, wie Menschen derart zugrunde gehen. Sondern auch, wenn man auf unser Europa schaut. Wäre da nicht noch ein Resthauch von einem Sichnichtgeschlagengeben.

Am gleichen Morgen, an dem ich die Kolumne von Harry Nutt in der Frankfurter Rundschau lese, lese ich von dem, was von den europäischen Bemühungen übrig bleibt, die der deutsche Neukanzler Friedrich Merz angestoßen haben möchte, auf dass sich wundersamer Weise der Russland-Ukraine-Konflikt in friedliches Wohlgefallen auflösen möge. Und wenn nicht, dann werde man die Daumenschrauben Richtung Kreml kräftiger anziehen. Merz und seine Europa-Freunde haben wieder einmal den Weg verwechselt, auf dem es zum Speisesaal geht, in dem nach dem Hauptgericht der Selbstherrlichkeit der süße Nachtisch der Erfüllung serviert wird. Vergessen ist rasch, wie laut man gestern rumtrompetet hat. Gottseidank geht es Kumpel Donald Trump aus dem Weißen Haus nicht anders. Auch er weiß mittags nicht mehr, was er morgens gesagt hat. Nur die Langzeitrückschau funktioniert. Danach wacht er eines Tages als Papst auf. Glücklicherweise hat schnell ein anderer auf dem kurzzeitig vakanten Heiligen Stuhl Platz genommen.

Am gleichen Morgen lese ich auch, dass eine Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten dafür ist, die Handelsbeziehungen zu Israel eingehend zu überprüfen. Weil sie eingebettet sind in die Achtung der Menschenrechte. Und man angesichts des brutalen Vorgehens der israelischen Regierung in Gaza berechtigte Zweifel hat, ob Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu diese unbedingte Achtung noch bewusst ist, wenn sie denn je Teil seines Bewusstseins war. Vielleicht gehört das ja zu den Lichtblicken, die man angelehnt an Nutts Kolumne über den Alltag seelisch aufgewühlter Menschen auch als Handlungs- und Aufhellungsspielräume ausmachen kann, die in Europas Spiegelsälen sinnanalog erscheinen. Jedenfalls ist es höchste Zeit und Gazas Not, dem nahfaschistischen Treiben Netanyahus und seiner rechten Entourage deutlicher zu machen, dass die Art und Weise, wie er dem unerträglichen Terror der Hamas mit eigenem Terror und Brüchen von Menschen- und Völkerrecht begegnet, stante pede Schluss sein muss.

Allerdings ist es fraglich, ob man mit dem Vergleich Demenz und Europa dementen Menschen nicht unrecht tut. Schließlich schaffen sie es, in all ihrem Irrlichtern immer wieder so etwas wie eine Restwürde zu bewahren. Die Restwürde ist in den vergangenen Jahren in Europa sprichwörtlich flöten gegangen. Unter anderem, weil man im Irrlichtern nicht das Licht gesucht hat, sondern die Kollaboration mit dem rechten Lager. Und weil man vermeintlich hilflos zugeschaut hat, wie Mitgliedsstaaten flugs nach rechts rutschen und dabei Europa mit in ihre Abgründe zu ziehen versuchen. Migration. Suche nach Frieden im Russland-Ukraine-Krieg. Klimapolitik. Nirgendwo ist ersichtlich, dass eine Politik der Würde angesteuert wird. Nirgendwo ist erkennbar, dass neben niederen Beweggründen der Politik die Menschen und ihr Überleben eine Rolle spielen. Insofern stimmen Analogien dann vielleicht doch. Wenn Politik als schicksalshaft betrachtet wird. So schicksalshaft wie die Diagnose Demenz.

Dann nämlich kommt nach dem Licht wieder Dunkelheit, am Ende für immer.

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