Das jüngste Mal, dass ich ohne Zweifel an den Begriff der Befreiung dachte, war am 8. Mai. Dem Tag, der Dank Ex-Bundespräsident von Weizsäcker als Tag der Befreiung geehrt wird. Der Befreiung vom Nazi-Faschismus. Rund um diesen Tag habe ich mir nochmal eine Reihe von Filmen angeschaut, die an das deutsche Mörderregime erinnern, das unser Land, Europa, die Welt für lange Zeit in politische Dunkelheit trieb. Und an die Opfer. Für fast alle war es in der Tat befreiend, als die Alliierten dieses Regime in die Knie zwangen. Viele hatten kapitulieren müssen. Wurden in die grausamen Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert, um dort bestialisch umgebracht zu werden. Andere kapitulierten mit ihrem Leben auf den Kriegsfeldern quer über den Kontinent. Starben auf dem Land, in Städten. Durch Bomben, Hunger, Nazi-Schergen, die ihre letzten verheerenden Spuren hinterließen..
Nach 1945, also kurz nach der Befreiung, wurde dann schnell abermals kapituliert. In Behörden hielt die überlebende Nazi-Nachhut Einzug. Engagierte Staatsanwälte wurden an der Aufklärung der Nazi-Verbrechen gehindert. Unternehmen, die sich den Nazis als opportunistische oder überzeugte Helfer angedient hatten, zogen die Decken über ihrer Verantwortung breit. Das konservative Spießertum, das unter anderen der Nazi-Herrschaft den Boden bereitet hatte, schickte sich an, alte Einflüsse herzustellen und zu pflegen. Unter der Anstrengung des Wiederaufbaus wurden die Trümmer des gerade niedergerungenen Faschismus nur dürftig beiseite geräumt und zogen ihre Schwaden durch die Lüfte. Auf Nazi-Asbest wurden das neue Deutschland gebaut. Das Land war, vom Schlimmsten befreit, bereit zu neuer Kapitulation. Wäre da nicht eine bohrende nächste Generation gewesen, die Druck machte.
Es folgte eine Zeit von weiteren Befreiungen, in denen Mächte und Großmächte, faschistische Regime und allerlei anderer politischer Unrat gerechte Niederlagen erlebten. In Vietnam (weg mit den Amis!), in Spanien (weg mit Franco!), in Portugal (weg mit Salazar!), auch in Griechenland (weg mit der Militärdiktatur!). Das unter Nachwehen des Stalinismus gebeutelte Sowjetreich knickte ein. In Afrika zogen sich bis zum Norden hin Kolonialherrschaften zurück. Auch in Lateinamerika sah es nach befreiendem Aufbruch aus. Lang ist’s her. Heute erleben wir eine weltweite Rückwärtsbewegung. Eine geradezu epidemische Welle von Kapitulationen. Vor Trump, Putin, Erdogan, Netanyahu und den Taliban. Vor afrikanischen Despoten. Und lateinamerikanischen Verrätern des Befreiungsgedankens. Wir stehen da, uns fällt nichts dazu ein, als hehre Worte, die pure Besinnungslosigkeit tarnen.
Der 8. Mai steht, blicken wir uns um, gottverlassen da. Gestern noch kletterte ich gegen die Startbahn West auf Bäume, rannte gegen Atomkraftwerke an, stellte mich mit Hunderttausenden gegen die Nachrüstung auf den Bonner Rasen, hockte mir in Zirkeln sozialistischer Weltverbesserung den Hinter wund. Teils ohne, teils mit Erfolg. Jedenfalls immer Befreiung im Blick und Zuversicht im Herzen. Heute fühle ich mich, als würde ich aus der Politklampfe mit gerissenen Saiten nur noch mühselig Where have all the flowers gone herausdudeln. Während wir um uns herum weitgehend hinnehmen oder zu Hinnahme neigen. Wir nehmen durchgeknallte Präsidenten hin, russische Diktatoren, türkische Demokratie-Killer, israelische Völkerrechtsbrecher, die brutalen Taliban. Eine hilflos agierende Bundesregierung. Die Faschisten der AfD. Nicht mal privat kommen wir ohne Kapitulation aus.
Nachdem wir jahrelang die Kämpfer gegeben haben, geht uns der Saft aus. Zu viele Baustellen. Wo eine abgeräumt werden könnte, tauchen 100 neue auf. Dazu muss man noch das eigene Haus bestellen. Auch da gibt es hin und wieder zu viele Baustellen. Das Alter (ich weiß, wovon ich spreche), die Gesundheit, das familiäre Miteinander. Der Mensch dachte, er sei selbst fürs maximalste Maximum geschaffen. Ich erlebe, dass das ein Märchen ist. Das auch nicht wahrer wird, wenn die holde Fee KI zur Hilfe kommt. Die potenziert das Unheil nur. Wir kranken nicht nur an kranken Hirnen, die durch die Welt wabern, wir kranken auch an der Vorstellung, alles verkraften oder vertreiben zu können. Ich jedenfalls spüre zunehmend die Grenzen. Die mich mahnen, mich zu konzentrieren. Auf wenige Dinge, die mir des Kampfes wert sind oder mir, wow!, sogar profane Freude bringen. Der Rest muss mir, so fürchte ich, egal sein.
Am nächsten 8. Mai werde ich in diesem Sinne einerseits an die Befreiung denken, die diesem Land geschichtlich eine Chance gab, sich abseits seines Komplettversagens zu bewähren. Und an die Aufgabe, die sich daraus ergibt. Zum einen, vor allem nicht vor den neuen Faschisten zu kapitulieren, allen vor der AfD. Und immer wieder demokratische und soziale staatliche Fürsorge anzumahnen. Zum anderen, aus erfreulichen Dinge Kraft zu schöpfen. Für mich, uns selbst, die Dinge, die einen in die Lage versetzen, privat, aber nicht nur privat empathisch zu sein. Und alles zusammen gut zu dosieren. Gemeinsam mit anderen. Die Balance zu halten, die nötig ist, will man den unzähligen Herausforderungen der Welt und des persönlichen Lebens gewachsen sein. Lassen wir uns nirgendwo auf Holzwege locken! Nennen wir die schlimmen wie die gute Dinge beim Namen. Das befreit, versprochen!

Hinterlasse einen Kommentar