Existenzrecht! Das ist ein gutes Stichwort. Nicht nur, wenn es um Israel geht. Existenzrecht – das können und dürfen im Grunde alle wo auch immer für sich beanspruchen. Das ist nichts Unverschämtes. Sondern etwas eigentlich Selbstverständliches. Und es umfasst eine Menge Dinge. Vor allem natürlich das Leben, atmen. Essen und trinken. Aber auch: Wohnen. Und zwar nicht unter der Brücke, sondern mit festem Dach überm Kopf. Es umfasst die medizinische Versorgung und Hilfe. Die Pflege. Ausreichend Geld für alle, die sich ihr Leben lang für die Gemeinschaft krumm gemacht haben. Und es gilt: Für ALLE! Jung und Alt, männlich, weiblich, transsexuell, genderless. Es gilt für die Menschen auf allen Kontinenten, unter allen Regierungen und auch Regimen. Es gilt sogar für üble Diktatoren. Auch wenn man ihnen heimlich den Hals durchschneiden möchte. Es gilt also im Zweifel selbst für solche, die anderen partout das Existenzrecht streitig machen möchten.
Das Existenzrecht ist nicht explizit als eigentständiges Recht im Völkerrecht verankert. Es ergibt sich aus der Charta der Vereinten Nationen (UN). Sie bekräftigt die Grundrechte des Menschen und den Wert der menschlichen Persönlichkeit. Für jeden Einzelnen. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Alle Menschen verfügen von Geburt an über die gleichen unveräußerlichen Rechte und Grundfreiheiten.“ Auf die „jedermann gleichermaßen Anspruch hat“. Weil viele denken, der Staat, in dem sie leben, sei befugt, aus wie auch immer gewonnener Macht daran nach Belieben rumschrauben, steht in der Erklärung ausdrücklich: „Auch Sie“, also der jeweils Angesprochene oder sich angesprochen Fühlende, und auch der, der im Augenblick nicht konkret Gemeinte, also abstrakte Mensch, „auch Sie haben Anspruch auf diese Grundrechte. Es sind auch Ihre Rechte“. Und weil das Leben immer gemeint ist, ist es auch im Krieg gemeint. Auch er kann das Existenzrecht verletzen.
Denn Kriege löschen in der Regel Menschenleben aus, wenden sich also gegen das international verbriefte Existenzrecht des Einzelnen. Man hat sich freilich angewöhnt, oder besser maßt sich an, hier etwas zu tun, was, wenn man die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beim Wort nimmt, unlauter ist. Nämlich das Existenzrecht des Einen gegen das Existenzrecht des Anderen aufzurechnen. Wenn du mein Existenzrecht angreifst, greife ich deines an, heißt das. Und weiter gefasst: Wenn du drohst, mir die Existenz zu nehmen, dann nehme ich dir sie (auch). Und wenn du mir das Existenzrecht streitig machst, dann mache ich es dir ebenfalls streitig. Und weil ich ein Recht auf meine Existenz habe, lösche ich im Zweifel deine Existenz aus, bevor du meine auslöschen kannst. Genau an dieser Stelle wird das Existenzrecht zu einem politisch beugsamen Recht degradiert. Es gilt nicht mehr an sich. Sondern im Sinne politischer Abwägung. Es ist nicht mehr absolut. Sondern wird modifiziert.
Wer immer Gewalt ausübt, spezifisch terroristische Gewalt, kriegerische Gewalt oder tatsächlich anderen den Krieg erklärt, sollte sich im Klaren sein, dass er, auch wenn er glaubt, sein Existenzrecht zu verteidigen, das Recht anderer auf Existenz angreift. Man kann darüber diskutieren, ob das gut oder schlecht ist, und darüber wird auch diskutiert. Es ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass das international verbriefte Existenzrecht, das niemand, kein Mensch und keine Staat, für sich exklusiv beanspruchen kann, in diesem Moment ausgehebelt und verletzt wird. Obschon das Existenzrecht etwas absolut Grundlegendes ist, mag es opportun erscheinen, es je nach Lage eines Konflikts in die ein oder andere Richtung zu missachten und missbrauchen. Insbesondere mit dem schon oben genannten Argument, meine Existenz könne nur gerettet werden, wenn ich sie dem anderen nehme. Es bleibt aber, auch wenn es gut begründet scheint, dabei, dass ich Recht nehme, in dem ich mir Recht gebe.
Eine derartige Beschreibung und Auslegung des Existenzrechts, nicht explizit, aber durch eindeutige Lesart der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gewährt und einforderbar, mag an den Realitäten von Krisen, Konflikten und Kriegen vorbei gehen. Und einem Abgleich mit der Komplexität gewaltsamer und existenzgefährdender Auseinandersetzungen auf den ersten Blick nicht standhalten. Weil alles komplizierter klingt und wirkt, was dazu führt, dass Menschen und Staaten ihr Existenzrecht streitig gemacht wird. Einmal auf seinen rechtlichen, menschlichen und persönlichem Gehalt abgeklopft, kann die Anerkennung des allgemeinen und grundsätzlichen Existenzrechtes der Menschen aber helfen, friedlichen Lösungen einen Vorrang zu geben. Auch sie schließen nicht per se die Anerkennung von Existenzrecht ein. Aber sie können dazu dienen, dem schlimmsten Bruch des Existentrechts, nämlich der Auslöschung von Leben doch noch zuvorzukommen.
Genau aus diesem Grund, wegen des Existenzrechts des Menschen, und zwar jedes Einzelnen, auch etwa in Israel, ist es nicht sonderlich ratsam, über jene hämisch oder aggressiv den Stab zu brechen, die sich dafür einsetzen, den Krieg nicht mal als Ultima Ratio mit der Forderung nach Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit gutzuheißen oder gar zu befeuern. Mir scheint, es werden dieser Tage die Waffen der Demagogie besonders parolierend in Stellung gebracht. Vielleicht ja, um erst gar nicht über den Kern von Menschen- und Existenzrecht zu sprechen. Dazu passen auch Angriffe auf die Vereinten Nationen. Die einmal aus der Taufe gehoben worden, um immer wieder genau auf das Existenzrecht der Menschen und Staaten hinzuweisen. Auch mit der Entwicklung und dem besonderen Gewicht des Völkerrechts. Jenen, die nun, angesichts zunehmender Kriegsdämmerung auf der Welt, in Misskredit geraten, gebührt zumindest der Dank, dies nicht zu vergessen. Auch wenn es vielleicht naiv erscheint.

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