Wer mit dem Zug den Genfer See entlang von Genf nach Montreux fährt, ahnt es. Die Schweiz ist teuer. Haus an Haus, Villa an Villa reihen sich in Bestlage mit Direktzugang zum Wasser wie eine Kette aneinander. Flair, so nennt man das, was sie ausstrahlen. Nicht nur in Frankreich. Auch in der französischen Schweiz. Seit junge Jahren habe ich davon geträumt, einmal zum „Jazz“festival in das Städtchen am östlichen Ende des Sees zu reisen. Jetzt habe ich mir den Traum erfüllt. Darin kam das Jazzfestival, das mit Jazz im engeren Sinn nichts wirklich oder nur sehr annähernd etwas zu tun hat, wahrscheinlich nie zu tun hatte, als eine ruhige, eher intime Angelegenheit vor. Obschon ich um seine Anziehungskraft wusste. Was ich erlebte, war einerseits von Geist und Physis wundervoller Musik durchflutet. Auf der anderen Seite auch das, was ich schlechthin einen wahren Rummel nennen würde.
Montreux im Juli. Das bedeutet eine Art Ausnahmezustand. Nichts in dem Ort, das nicht auf die Klänge der Tage verweisen würde. Zwei Bühnen: Eine offen zum See hin, eine im Gebäude des Casinos, um die sich vom späten Vormittag an ein Stand an den anderen knüpft. Buden, an denen international gekocht wird. Cocktails gemixt werden. Einige bieten Platz an langen Holztischen mit harten Bänken. Andere putzen sich loungemäßig heraus. Man lässt sich tief in flauschige Sessel fallen. Mit Glück von Palmen vor gnadenlos strahlender Sonne geschützt. Und lässt das Publikum passieren. Gesehen und gesehen werden ist – wie beim Filmfestival in Cannes auch – die Losung. Das bedient triviale Neugier, ermüdet aber auf Dauer. Eine Wohltat, wenn zwischendrin Fahrradwanderer den Blick auf aufgedonnerte Sirenen und Wildleder-Slipper-Machos mit Prada-Sonnebrillen brechen.
Sie freilich prägen nicht nur das Bild, sondern auch die Preise. Montreux weiß, wie es funktioniert. Auf den Menus der Restaurants findet sich in der Rubrik Hauptspeisen nicht viel unter 40 €. Dabei werden nichtmal hohe lukullische Künste geboten. Dafür halten sich Wein-Preise in Grenzen. Wer es sachter angehen möchte, für den gibt es an den Straßen kleine Imbisserien. Doch auch die nehmen Geld. Nur um das Drumherum soll es hier aber nicht gehen. Auch wenn dies anfangs den Autor spürbar beeindruckt hat. Viele, vielleicht die Meisten kommen im Juni nach Montreux, um sich in allabendlich in eine Klangwelt zu begeben, die Geschichte schrieb und schreibt. Wer einmal auf der Bühne in Montreux stand, hat es schon zu was gebracht – oder es steht eine nicht unbeachtliche Karriere bevor. Der Eintritt freilich ist happig. Wer einen Sitzplatz im Casino haben möchte, zahlt weit über 200 Euro.
Der diese Zeilen schreibt, hat sich, seinen Jugendwunsch im Kopf, deswegen nur ein Konzert gegönnt. Und es war nicht eines der in diesem Jahr wohl prominentesten Künstler: Neil Young, Lionel Richie, Diana Ross, Grace Jones, Carlos Santana. Hätte er nicht den israelischen Bassisten, dem eine seiner musikalischen Lieben gehört, Avishai Cohen, schon mehrfach gehört, er wäre es gewesen. Es gibt aber einen anderen Musiker, vor ein paar Jahren von einem guten Freund empfohlen und seitdem eine Herzensangelegenheit: Er heißt Jorge Drexler, stammt aus Uruquay, lebt seit Jahren in Spanien. In Madrid. Erst lernte er Arzt, dann leistete er den Lebenseid auf seine Berufung als Singer, Songwriter. Als erster erhielt er einen Oscar für ein Lied auf Spanisch. „Al otro lado del rio“ (auf der anderen Seite des Flusses) wurde als Soundtrack für den Film „Die Reise des jungen Che“ ausgezeichnet.
In einem Interview des Berliner „Tagesspiegel“ wurde einer der erfolgreichsten lateinamerikanischen Musiker gefragt, warum er einen Namen trage, der doch irgendwie ziemlich deutsch klinge. Die Antwort(en): Geschichte. Ursprünglich, so verriet er, komme seine Familie aus der Ukraine. Jüdische Wurzeln. Ging nach Deutschland. Versuchte, sich der deutschen Kultur anzupassen. Sie liebten Beethoven und Mozart. In Berlin wuchs sein Großvater mit den Comedian Harmonists und Bertolt Brecht auf. Dann die Flucht vor den Nazis. Spät, erst 1939. Nach Bolivien, in ein kleines Dorf, das jüdische Flüchtlinge aufnahm. Dann Uruquay. Auf die Weltpolitik angesprochen, hofft Jorge Drexler, dass das Pendel zwischen Nationalismus und Empathie am Ende zur Seite der Empathie ausschlägt. In „Movimento“ sein Credo: Wir stammen nicht allein nur aus einem Ort, sondern haben von vielen Orten ein wenig.
Jorge Dexler, ein Kosmopolit. Seine Sprache spanisch. Die ihm, so sagt er es dem „Tagesspiegel“, die Welt zunehmend öffnet. Denn spanisch-sprechendes Publikum finde er immer weiter verbreitet. In vielen Ländern Europas. damit wächst das Publikum grenzüberschreitend. Und Drexler ist nicht mehr nur auf Bühnen in Lateinamerika oder Spanien präsent. Jetzt also auch Montreux. Und auch dort, gefühlt und hörbar, der Autor würde schätzen: zwei Drittel, die die Texte von Jorge Drexler verstehen. Ihm zujubeln. Der solo, mit ein wenig elektronischer Unterstützung, auftritt. Seine bekanntesten und, dem Echo im Casino von Montreux zu entnehmen, auch beliebsten Songs singt. Zart in den Tönen. Einfühlsam. Die Texte: Der Autor hat mal einen Spanischkursus in Mexiko besucht. Jetzt muss ihm das Übersetzungsprogramm helfen. Die Botschaften aber lassen sich freilich schon am Klang ablesen.
Sie handeln von berührender Liebe, von Hingabe. Von den Möglichkeiten und den Umständen, in denen Musik entsteht. Sein Auftakt in Montreux: „Eco“ vom gleichnamigen Album. Mein erstes, das ich hörte. Und seitdem nicht oft genug hören kann. Es beschreibt das Echo des Lebens, des Ich’s, des Du’s. Ein ewiges Echo, subtil wie ein Duft. Ein unendliches Echo, das nach und nach immer mehr Platz einnimmt. Bis es sich vom Konkreten in etwas Unfassbares verwandelt. „Esto que estás oyendo / Ya no soy yo / Ya no soy yo“. Dass Jorge Drexler dieses Lied an den Anfang stellte, war für mich wie eine Offenbarung. Man ist und ist und ist – und wird am Ende nicht mehr sein. Und doch sein. Nur nicht mehr als der oder die, der oder die man war. Sondern als ein ewiger Nachhall. Nachhall. Das ist auch das, was mir unwiderruflich bleibt aus dem Konzert mit Jorge Drexler in Montreux.
Auch Che Guevara war Mediziner, bevor er sich zur Revolution berufen fühlte. Vorher hatte er auf einer Motorrad-Reise, von der auch der von Jorge Drexler besungene Oscar-prämierte Film handelt, das ganze Elend und die Armut in Ländern Lateinamerikas gesehen. Vielleicht ist das ja so etwas wie eine klandestine Verbindung. Erst Doktor. Dann die eigentliche Berufung. Wo Che Guevara den Weg zum bewaffneten Kampf einschlug, machte sich Jorge Drexler auf den Weg, seine Empathie mit dem Leben über die Musik, die Worte eben und Klänge auszudrücken. Der eine ist, was man bedauern mag, mit seinen Idealen an der Realität gescheitert. Der andere aber singt und singt. „Eco“ eben. Die Menschen, die er begeistert, werden bestenfalls ihrerseits die Musik in Empathie transformieren. Dann hätten Montreux und andere Orte viel geleistet. Meine Seele hat er mit seiner Empathie gestärkt.

Hinterlasse einen Kommentar