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Das Bloße Erschrecken

David Grossmann. Der prominente israelische Schriftsteller hat dieser Tage wissen lassen, dass er nicht mehr anders kann. Als für das Vorgehen der Regierung Netanyahu den Begriff zu verwenden, der hierzulande noch immer auf der Liste des Unsäglichen steht: „Genozid“. Lange, so Grossmann zur italienischen Zeitung „La Repubblica“, habe er sich dagegen gesträubt. Nun gebrauche er, der 71-jährige, „mit unermesslichem Schmerz und einem gebrochenen Herzen“ dieses Wort, dass nach deutscher Staatsräson noch immer auf dem Index steht. Es sei für ihn „niederschmetternd“, die Worte „Hungersnot“ und „Israel“ miteinander verknüpfen zu müssen. Und zu sehen, wie die Menschen in Israel Hass und Angst nachgeben, statt die Realitäten zu sehen. Und gegen das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza zu demonstrieren. Eine Falle, aus der es laut Grossmann möglicherweise keinen Ausweg mehr gibt.

Grossmann, ein Antisemit? Der die Lesart derer übernimmt, die das Leid der Palästinenser*innen in den Fokus rücken? Da ist noch jemand: Gideon Levy, Autor und Mitherausgeber der israelischen Tageszeitung „Haaretz“. Der der Netanyahu-Regierung „Völkermord“ vorwirft. Zugleich von Initiativen Abstand nimmt, einen „Staat Palästina“ anzuerkennen, den es gar nicht gebe. Leere Worte, Lippenbekenntnisse, so Levy in „Haaretz“. Was jetzt wichtig sei – und das ist keine BDS-Verlautbarung! -, seien harte Sanktionen gegen Netanyhus Vorgehen in Gaza. Einen Staat „Palästina“ hält Levy für unrealistisch – weil weder die Hamas noch die jüdischen Siedler in den Palästinenser-Gebieten ihn wollten. Entschieden werden müsse: Zwischen Apartheid oder Demokratie. Ein Staat, vom Jordan-Fluss bis zum Mittelmeer, eine Person, eine Stimme. Einen anderen Weg sehe er, Levy, nicht.

Er teilt damit die Ansicht des israelischen Intellektuellen Omri Boehm, der von der Gedenkfeier zur Befreiung des NS-Konzentrationslagers Buchenwald ausgeladen wurde. Auch er ist für einen Staat, in dem Israelis und Palästinenser*innen zusammenleben. Mit gleichen Rechten. Ein „binationaler Staat“ entspricht aus der Sicht Boehms den zionistischen Idealen von Gerechtigkeit. Zwei Staaten würden dagegen eine weiterhin eingeschränkte Souveränität der Palästinenser*innen bedeuten; eine Vorstellung, die jüdischen Siedler*innen gefalle. Aber kein Zeichen für notwendigen Universalismus im Zusammenleben sei. Die Frage, wie Jüdinnen/Juden und Palästinenser*innen einmal nebeneinander oder zusammenleben, wird sich vermutlich nicht nicht so schnell beantworten lassen. Zumal dann nicht, wenn es stimmt, dass Netanyahu nun eine komplette Besetzung des Gaza-Streifens erwägt.

Dies freilich würde etwas auf verheerende Weise fortschreiben, was mit dem Angriff der Hamas und dem Krieg Israels gegen die Menschen im Gaza-Streifen unter dem Vorwand alleiniger Terror-Bekämpfung eine neue Stufe erreicht hat. Von der man nur mit allergrößter Zuversicht annehmen kann, dass sie sich zurückschrauben ließe. Der isrelische Schriftsteller Assaf Gavron ist der Überzeugung, dass das, was Israels Regierung in Gaza anrichtet, nichts mit den Sicherheitsbedürfnissen der israelischen Bevölkerung zu tun habe. Sondern vielmehr die Reihen der Hamas stärke. Was jetzt geschehe, sei nichts weiter als „Rache“. Ein „Verbrechen“ gegen Menschen und Menschlichkeit, so schreibt er in einem Gastbeitrag für den Berliner „Tagesspiegel“. Und weiter: „Ich schäme mich: als Israeli, der derzeit in diesem Land lebt, und als Jude, der an die jüdischen Werte Gerechtigkeit, Moral und Würde glaubt.“

Und der „Zentralrat der Juden in Deutschland“? Hat auf der Startseite seines online-Auftritts nichts weiter zu tun, als die kritische Erklärung der SPD-Bundestagsfraktion zu Gaza „in ihrer Einseitigkeit verstörend“ zu finden. Mit der Freilassung der Geiseln könne die Hamas „das Leiden der Palästinenser unverzüglich beenden“, so Zentralsratschef Josef Schuster, ignorant gegenüber dem, was die rechte Regierung des Landes, dem er sich verbunden fühlt, anrichtet. Für Schuster scheint nicht nur der Ausgangspunkt der Eskalation des Konflikts, der Angriff der Hamas gegen Israelis, sondern auch alles, was danach kam und kommt, in Verantwortung islamistischen Terrors zu liegen. Damit entfernt er sich weit von zunehmenden Einschätzungen der Menschen in Israel selbst. Und verschreibt sich offenbar blind dem Glauben, für Israel würden keine internationalen Menschenrechtsstandards gelten.

Da ist die Deutsch-Israelische Gesellschaft weiter – jedenfalls ein bisschen. Und ein bisschen weniger Ignorant. Ihr Präsident Volker Beck erklärt auf dem Homepage der DIG: „Die humanitäre Versorgung der Menschen in Gaza muss oberste Priorität haben. Dahinter müssen legitime Kriegsziele wie die Entwaffnung der terroristischen Hamas und des Islamischen Dschihad erst einmal zurücktreten.“ Um freilich wenige Zeilen später anzufügen, dass Bundeskanzler Friedrich Merz mit seiner „Luftbrücke“ für Gaza den „richtigen Weg“ wähle. Dass aber jegliche Forderungen, die den politischen Druck auf die israelische Regierung erhöhen würden (etwa ein Rüstungsexportstop oder die Aussetzung von Kooperationsabkommen), weiterhin nur „antiisraelische Reflexe“ bedienten. Das Wort „antisemtisch“ fällt in der Erklärung nicht, ich nehme mal an, aus Rücksicht auf die deutsche Bundesregierung.

Insgesamt wird die Lage in Gaza und der Kurs der rechten Netanyahu-Regierung immer verheerender. Auf der anderen Seite, so mein Eindruck, treten die Stimmen, die jegliche Kritik an der israelischen Regierung unter „antiisraelischem Antisemitismus“ subsumieren, in der Hintergrund. Vor allem weil in Israel selbst die Kritik am verbrecherischen Vorgehen in Gaza wächst, läuft ein genereller Antisemitismus-Vorwurf zunehmend ins Leere. Hinzu kommt, dass – wie immer man das auch einschätzen mag – die Forderungen nach Anerkennung eines Palästinenser-Staates lauter werden. Und Länder wie Frankreich hier offensiv handeln. Ferner ist der politische Ruf nach Sanktionsmaßnahmen gegen Israel immer weniger überhörbar. Und er kommt längst nicht mehr nur aus der Richtung extremer propalästinensischer Kreise, die man deswegen gern in Hamas-Nähe rückte.

Eines scheint mir aber sicher: Wenn es die klugen Stimmen in Israel selbst nicht schaffen, Mehrheiten hinter sich zu scharen, die rechte Netanyahu-Regierung aus dem Sessel zu fegen und einen liberal-demokratischen, universell-menschlichen Kurs unter Beachtung allgemeiner Rechtsstaatlichkeit einschlagen zu helfen, wird die Region auf lange Sicht ideell zerstört und physisch leiden. Nicht nur die Millionen Palästinenser*innen, auch Jüdinnen und Juden. Solchen Herrschaften wie Netanyahu und Trump, die mit aggressiver Politik versuchen, ihre Macht zu sichern, wird dies kein Menetekel sein. Sie zehren in jeder Hinsicht davon, andere Menschen für ihre Ziele zu missbrauchen. Sie sind mitnichten Freunde ihrer Bevölkerungen. Ihnen sind Demokratie und menschenrechtsgemäße Reputation egal. Ebenso wie wohlmeinende Politiker in Westeuropa. Markenzeichen ist maximale Respektlosigkeit.

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