by

Grimms Märchen Stunde

Nun hat man ja, egal wo man in dieser Zeit hinschaut, auch in der Politik, schon ausreichend Schlichtheit versammelt. Da könnte man, nur mal so, hoffen, dass wenigsten die, die allenthalben „Wirtschaftsweise“ genannt werden, ihrem Namen gerecht werden. Doch wer immer sich das Label „Wirtschaftsweise“ hat einfallen lassen, aus dieser Richtung kommt auch gegenwärtig mehrheitlich heiße Luft. Liegt es am Wetter, dass der Geist so mühsam arbeitet? Jedenfalls hat die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm gegen leere Sozialkassen einen schon tausendmal aufgewärmten Eintopf erneut in die Mikrowelle geschoben. Man brauche in der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung „mehr Ehrlichkeit darüber, welche Leistungen wir uns wirklich leisten können und welche nicht“. Man brauche Leistungskürzungen! So der Einfall (die Einfalt) der Wirtschaftsprofessorin. Wirklich eine originelle Idee!!!

Und dafür gibt es wissenschaftliche Prokura? Mein Gott, hätte ich das gewusst, als ich nach einem anständigen Beruf gesucht habe. Der Zweisatz „kein Geld“ – dann eben „keine Leistungen“, auch wenn die Menschen auf dem letzten Loch pfeifen, ist das Billigmodell kapitalistisch geframter Betriebswirtschaft. Als Blaupause für jedwede Kassen-Lage reicht das Veronika Grimm allemal. Garniert mit der geratenen Einsicht, dass Menschen, die auf große Versprechungen setzen, es werde alles gut, nicht privat vorsorgen würden, obwohl viele es könnten, bringt das so richtig Fahrt ins Expertisen-Einerlei. Und dann seien natürlich noch die – nicht zu unterschätzenden – Lohnnebenkosten. Bei einer Vollversicherung der Pflege, die im Gespräch sei, würde Arbeit „zu teuer und unattraktiv“. Ist das schon eine Drohung, oder, nur mal so, eine Plauderei über Folgen und Nutzen?

Von SPD und Grünen kommt Protest. Die Grünen weisen auf „Stellschrauben“ hin, an denen, statt Leistungen zu kürzen, gedreht werden müsse. Etwa am Angebot von Arbeit. Frauen, Zuwanderer. Sie alle könnten, wenn sie tun dürften, was sie wollten, die Sozialsysteme über Arbeit stärken. Die SPD warnt vor einer „neoliberalen Herangehensweise“, wie es Grimm eigen sei. Und verweist auf eine Kommission, die an einer Reform des Sozialstaats arbeite. Und verlangt das „Soziale“ in der Mär von der „sozialen Marktwirtschaft“. Doof nur, dass auch in einem Kapitalismus, der das Soziale nicht aus den Augen verlieren soll, Privatunternehmer sagen, wo’s langgeht. Von ihnen und ihren Mitstreitern auf den Märkten hängt ab, ob es neben der Betriebswirtschaft auch um Volkswirtschaft geht. Also um die Disziplin, die dem Wohle aller dienen könnte. Wenn man den wollte.

Riecht ein bisschen nach Marx? Richtig. Einerseits haben Grüne und SPD ja Recht, wenn sie Frauen und Zuwanderer stärker in Einkommen und Brot und darüber auch besser in allgemeine Altersvorsorge und Altersversorgung bringen wollen. Und es gibt tatsächlich Fachkräfte-Alarm der Privatwirtschaft. Nur wenn wir eine restriktive Migrationspolitik fahren, nicht ausreichend Kita-Plätze schaffen, um nur mal zwei Aspekte zu nennen. Wenn wir Sondervermögen nicht für Sozialpolitik schaffen, wo wir eh schon bereit sind, mal wieder über mehr Schulden zu grübeln. Dann werden wir bei den Voraussetzungen für eine bessere Kassenlage nicht weiterkommen. Und wenn Arbeitgeber eher Grimm’s Märchen befeuern statt eine Bestandsaufnahme mit konstruktiven Perspektiven zu verknüpfen, dann werden wir sehen, wie uns eine solidarische, sozial sichere Gesellschaft unterm Hintern wegbricht.

Die Wahrheit ist und bleibt, dass der Staat, selbst wenn er sich Gutes einfallen ließe, was noch zu beweisen wäre, und wenn auch Unternehmer sozial einsichtig daher kämen, eine wirkliche Sozialreform nur anschieben kann, wenn er mehr private Verantwortung einfordert. Und wenn er die einfordert, sie auch duchsetzt. Und wenn er sie durchsetzen will, sich im Zweifel auch Möglichkeiten schafft, in das Räderwerk privaten Geschäftsgebarens einzugreifen. Sprich: Sich nicht schon vom kleinsten Ächzen der Aktionäre und ihrer Lobbyisten beeindrucken lässt. Sondern ihnen das abverlangt, was sie immer als Stärke des „Systems“ vor sich hertragen: Kreativität, Flexibilität, Teamgeist, Produktivität undsoweiter. Wenn es darum geht, andere daran zu erinnern, wie sehr notwendig das alles sei, um voranzukommen und Fundamente zu setzen, dann sind die Arbeitgeberstimmen flugs parat und unüberhörbar.

Wenn sie aber selbst aus den Gräben, in die sie sich seit kapitalistischer Steinzeit eingegraben haben, herauskommen sollen, dann ist ihnen die Luft schon einen Meter über normal zu dünn. Mehr Fantasie von der Politik, heißt es dann. Mehr solidarischer Verzicht der Gesellschaft. Drehen wir den Spieß um! Noch ist weder von der Politik noch von Arbeitgeberseite irgendwann einmal auch nur ein Zipfel einer neuer Idee zu sehen gewesen, der sich abseits von Eingriffen bei „Otto Normalverbraucher“ bewegt. Es wird, auch Dank solcher Weisen, zu denen sich Veronika Grimm zählt, nicht mal ein Steinchen hervorgeholt, das nicht in das altbekannte und berüchtigte Mosaik sozialer Verantwortung durch Leistungskürzungen passen würde. Null kreativ. Jeder Euro für Expert*innen wie Veronika Grimm könnte besser an die Rentenkasse gespendet werden, wäre dort besser angelegt.

Die „taz“ hat mit Bezug zur neuen Kürzungsdebatte linke Politiker aufgefordert, statt bloßer Ablehnung etwa des Grimm-Vorstoßes eigene Vorschläge zu machen. Eine Idee, so zu lesen, wäre eine Rentenverteilung von oben nach unten. Also hohe Renten zu Gunsten nicht so hoher Renten zu deckeln. Und die Renten in schweren Zeiten nicht an das geltende Äquivalenzprinzip zu koppeln, wonach alle Renten an die Rentenbeiträge gebunden sind, die jemand einzahlt. Aber wäre auch das nicht nur eine Verschiebe-Politik und weniger eine dringend notwendige grundlegende Reform? Wie wäre es, wenn man, mit Blick auf die Renten, stärker an die Gewinne der Unternehmen ginge – und sie höher besteuerte, und daraus erwachsende Mehreinnahmen gezielt an die Rentenkasse weitergäbe. Ähnlich könnte man es mit dem Gesundheitssystem halten. Wenn schon, dann bitte mehr Mut!

Das wäre nicht das Ende des Privatkapital-Prinzips. Aber es wäre der Anfang von größerer gesellschaftlicher Verantwortung der Unternehmen. Die ja auch im Grundgesetz reklamiert wird. Natürlich würde das Gewinne schmälern. Aber wer Leistungskürzungen für eine gute Idee hält, sollte nicht eigene Einbußen für eine Zumutung halten. Es kann nicht sein, dass privates Unternehmertum unangetastet bleibt, wenn es um soziale Balance geht. Und dass stets drauf verwiesen wird, dass alles zu Grunde geht, wenn Unternehmer nicht schalten und walten könnten, wie es ihnen gerade in die Bilanz passt. Derartige Kulissenschieberei hat angesichts der prekären Entwicklung ausgedient. Ebenso wie die Einfältigkeit, mit der eine Veronika Grimm unterwegs ist – und glaubt, ihr wirtschafts“weiser“ Aufguss wäre tatsächlich eine überzeugende Antwort auf dringende sozialpolitische Fragen.

Was mich umtreibt, ist die Sorge, dass, wenn wir weiter auf Expertisen wie die von Veronika Grimm hören – und weiter auf soziale Fragen nur die eine Antwort haben, nämlich die Menschen im Land immer stärker und stärker zu belasten, Politiker der rechtsextremen AfD ein Leichtes haben werden, sich als Retter der Nation in Szene zu setzen. Laut jüngster Umfrage ist die AfD stärkste Partei. Sie punktet mit Heilsversprechen und restaurativen Erlöservisionen. Millionen Menschen sind offenbar bereit, den Rechten ihre Stimme zu geben. Wenn wir Veronika Grimm folgen, dann schieben wir die Republik sozialpolitisch an den Rand des Ruins. Wenn wir Leistungen weiter kürzen, wird die AfD weiter daraus Honig saugen. Die Unternehmen werden mit den Schultern zucken. Und so tun, als würden sie bei Allem keine Rolle spielen. Die Politik bestärkt sie, wenn sie nicht tiefgreifend handelt. Wollen wir das?

Hinterlasse einen Kommentar