Haben Sie in den vergangenen Wochen auch nur einen Tag erlebt, an dem Sie das Gefühl hatten, sozialpolitisch würde die schwarz-rote Bundesregierung alles im Griff haben? Nein? Dann trügt Sie ihr Gefühl NICHT. Renten-, Kranken- und Pflegekassen ächzen unter der Last ihrer Aufgaben. Vor allem der, ihre Systeme zu finanzieren. Und was fällt Bundeskanzler Friedrich Merz ein? Reformgebrüll. Und was heißt Reformgebrüll? Gürtel enger schnallen. „Ich werde mich durch Worte wie Sozialabbau und Kahlschlag und was da alles kommt, nicht irritieren lassen“, so der Tabula-Rasa-Christdemokrat. Hätte jemand je etwas Anderes erwartet? Never ever. Und so jagt eine sozialpolitische Sau die andere durchs Dorf. Getrieben von einer Jungen Union, die dummdreist über die Rente ab 70 sinniert. Von Arbeitgebern, deren Einfallsreichtum bis zur nächsten Bilanzpressekonferenz reicht. Und einer SPD in Schockstarre, deren Boss und Vize-Kanzler Klingbeil sein Schwert stets am eigenen Ast parat hält.
Hier der „Herbst der Reformen“ (Merz). Dort Sozialdemokraten, denen Ideen, endlich mal einen wie auch immer gearteten Ausbau der „Reichensteuer“ zu realisieren, schnell wie Knebel in den Mund zurückgestopft werden. Der Kanzler hält es mit Sprüchen, die so alt sind, wie die soziale Marktwirtschaft unsozial: Man könne sich den Sozialstaat, „wie wir ihn heute haben“, nicht mehr leisten. Wir haben einen Sozialstaat? Ich kann mich kaum mehr erinnern, wann das gewesen sein soll. Seit Jahren werden Leistungen abgebaut. Seit Jahren wird bei den Beiträgen der gesetzlichen Krankenkassen draufgesattelt. Seit Jahren wird Arbeitslosen Geld gegeben – und wieder genommen. Seit Jahren sind die Pflegesysteme pflegebedürftig. Seit Jahren wächst die Altersarmut. Seit Jahren sind es die Menschen, die rechnen müssen, denen eine Zumutung nach der anderen ins eh schon schwere Leben platzt. Seit Jahren gibt es keine Jahreszeiten mehr, sondern jagt frühlings- und sommerlos ein Reform-Herbst den nächsten.
Scharenweise, so kommt es einem vor, flüchten Politiker*innen von der Innen- in die Außenpolitik. Lieber im heißen Trump-Spa des Wahnsinns als zitternd zu Hause in Desaster-Land. Besser auf Visite nahe den Frontgräben zwischen Russland und Ukraine als angesichts leerer Sozial-Versprechen daheim. Wer noch nicht geflüchtet ist, für den ergibt sich vielleicht bald, wenn Netanyahu weiter wütet, die Aussicht auf Sonnentage an der Palästinenser*innen-freien Gaza-Riviera. Oder ein spannendes Survival-Camp in Ramallah im Westjordanland. Ganz hartgesottene können sich in Taliban-Nähkursen für Niqabs tummeln. Unter denen alte weiße Männer etwaige Scham über ihre Fehlschläge verstecken können. Alles jedenfalls vergleichsweise angenehmer als die Konflikte an der Heimatfront. An deren Lagerfeuern sich bereits die AfD ihre schmutzigen Hände wärmt. Und mit rechts-schaffender Aufregung die nächste Zweidrittel-Mehrheit-Abstimmung im Bundestag erwartet. Wo gehobelt wird, da fallen Spahne.
Während man also angestrengt darüber grübelt, wohin unser Land treiben mag, feiert die Pressemitteilung, die einige Digital-Heads schon tot glaubten, ihre matrizenartige Wiedergeburt. Wie in einem historical workshop für die massenhafte Verbreitung berührungslosen Protests kurbeln grüne und linke Protagonisten ihre PR-Maschinen an. Der Grünen-Chef lässt wissen: „Wir wollen wieder zur führenden Partei der linken Mitte werden“. Auch Die Linke lehrt Merz das fürchten. Etwa so: „Sie sollten sich schämen“ (Mai 25). Banaszak, Brantner, Reichinnek, Schwerdtner. Ich spüre in Prenzlberg förmlich, wie nur wenige Kilometer entfernt die Außenmauern des Kanzleramts wackeln. Derweil ermitteln Polizeien und Staatsanwaltschaften in (zunächst noch) mehr als 20 Fällen in Sachen „Politiker-Beleidigungen“. „Journalistische Recherchen“ unerwünscht, so der Berliner „Tagesspiegel“. Grundlage: § 188 des StGB. Dessen Streichung Alice Weidel&Co fordern. Ihre „X“-Klientel wird’s ihnen danken.
Dass ein CDU-Politiker (Andreas Mattfeld) mit dem Trick kommt, man könne ja über eine höhere „Reichensteuer“ reden, wenn im Gegenzug „notwendige Sozialreformen“ umgesetzt würden, lässt ganz tief blicken. Tief in die 170-Milliarden-Finanzlücke hinein, die sich nach diversen Berechnungen bis 2029 in Deutschland auftut. Doch da ist Bayerns Söder vor, der dieser Tage von Ex-Wirtschaftsminister Habeck wegen „fetischhaftem Wurstgefresse“ geseitenhiebt wurde. Ob Habeck, ebenfalls auf der Flucht ins Ausland und ohnehin nicht mehr von politischer Bedeutung, auch wegen § 188 verfolgt werden könnte, sei dahingestellt. Mattfelds Karrierechancen aber dürften nach diesem Fauxpas zum christdemokratischen Wertekanon dringlichen Sozialabbaus begrenzt sein. Wenn über einer SPIEGEL-Kolumne von Nikolaus Blome dieser Tage steht, „Der wahre Kulturkampf geht um den Sozialstaat“, so ist das, auch wenn Blome wie immer ultra-konservative Stellung bezieht, nicht so falsch.
Weimar, Merz, Spahn, Klöckner. Gendern, Fahnen überm „Reichstag“ (der bald wieder einer werden könnte), das Verfassungsgericht und Debatten um marode Sozialkassen. Es braucht keine *chen, um die breite Diversität des Insolvenzbegriffs herauszuputzen. Er meint, nicht nur im Zweifel, das geistige und finanzielle Blankziehen der Koalition. Gegen das der 13-%-Junior-Partner nicht anstinkt. Mal über die Glückszahl nachgedacht? Auch linke Widerstandsfloskeln werden die Richtung nicht ändern. Der Kulturkampf, von rechts bis in die unionslästige Mitte hinein anhaltend mit neuem Öl begossen, macht vor nichts und niemandem halt. Schon gar nicht vor einer Politik-Agenda, wonach in (gelinde formuliert) außerordentlicher Lage nur ordentlich dosierter Gegenwind entgegengebläst. Es ist gut, wenn wir gegen das Gaza-Desaster auf die Straße gehen. Es wäre dringlich, dies auch gegen den Sozialabbau zu tun. Auf verschlungenen Kulturpfaden hängt das eine mit dem anderen zusammen.

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