Wenn Wolfgang Michal im „Freitag“ schreibt, ist immer Vieles wunderbar richtig. Und dann wird es am Ende stets verlässlich krumm und schief. Sein jüngstes Elaborat dreht sich um die Inflation. Steigende Lebenshaltungskosten, so seine These, schürten Verunsicherung und Angst vor dem sozialen Abstieg. Und dennoch, das ist dann schon der erste Trugschluss im Teaser, den Autoren freilich oft nicht selbst schreiben, tauche das Thema in der öffentlichen Debatte kaum auf. Echt jetzt? Sehe ich anders. Es kommt dann eine Tour de Raison gewaltiger Preissteigerungen, die einem das Leben schwer machen – gut so! Um dann den Abzweig zu physischen und psychischen Folgen zu nehmen. Und zu beschreiben, was Fakt ist: dass Menschen unter der Inflation leiden. Unbestritten.
Der erste Trugschluss ist, wie gesagt, der, dass das Thema Inflation und ihre Auswirkungen kaum öffentliche Beachtung fände. Zumal nicht, wenn es darum gehe, die Konsequenzen zu beschreiben. Besser: Beides miteinander zu verknüpfen. Das ist schlichtweg unwahr. Aber Michal braucht diese Merkwürdigkeit. Weil er noch etwas Anderes im Schilde führt. Was, wird am Schluss seines Beitrags offenbar: Er meint, so darf geschlussfolgert werden, dass insbesondere zu kurz komme, wie sehr Inflation und ihre Konsequenzen dazu führten, dass Menschen sich auf die Seite der Rechten, explizit der AfD, schlagen. Das ist eine Lieblingsthese von Michal. Den Kern des AfD-Zulaufs vor allem den sozialen Verhältnissen zuzuschreiben. Ich nenne es mal die „Autobahn-These“.
Warum „Autobahn-These“? Deswegen: Schon mein Herr Papa behauptete dereinst, Adolf Hitler habe mit dem Bau von Autobahnen und der Schaffung von Arbeit und besseren sozialen Verhältnissen die Schar seiner Anhänger in nullkommanichts vermillionenfacht. Und nicht etwa zuvorderst ihren Antisemitismus, ihre Feindschaft dem Kommunismus, allen Linken, dem Liberalismus, Sinti und Roma, den Eliten, Homosexuellen, der Freiheit der Kunst etc. gegenüber freigelegt und angefacht. Habe nicht in den niedersten Gründen der deutschen Seele die Saat seiner Nazi-Herrschaft gesehen. Habe nicht die ideologischen Tiefen der Volksseele aufgewühlt und daraus den Sprengsatz seiner faschistischen Herrschaft über die deutschen Grenzen hinaus gebaut.
Die Mär vom Protestwähler, der Protestwählerin, der, die sein Kreuz bei der AfD macht, weil er den so genannten etablierten Parteien keine sozialpolitische Zugkraft mehr zutraut, ist nicht aus der Welt zu kriegen. Ok, ich korrigiere mich. Natürlich ist die soziale Realität nicht gerade demokratieförderlich. Sie schürt Argwohn. Und wer immer Milliarden für die Rüstung, vor allem die Ukraine-Hilfe freischaufelt, nicht aber für Rentensicherheit und Gesundheitsversorgung, der muss sich in der Tat fragen lassen, ob es ihn wundert, wenn er bei Wahlen auf breiter Linie die Unterstützung verliert. Und in Talkshows eher Gelächter als Bewunderung erntet. Der einem mit seinen ewigen Sanktnimmerleinmärchen mit der Zeit immer gehöriger auf den Keks geht.
Woher aber kommt es, dass der Unmut bei Umfragen immer auf das Konto der „Alternative für Deutschland“ gutgeschrieben wird? Und nicht auf das Konto etwa der Partei „Die Linke“. Die ebenfalls ziemlich sauer auf die regierenden Politiker, derzeit der Union und der SPD, ist? Die allemal politische Gegenentwürfe bietet, die nicht einhergehen mit Demokratiefeindlichkeit. Und flächendeckendem Argwohn gegenüber „dem System“, inklusive Rechtsstaat. Die nicht Migranten bezichtigt, „den Deutschen“ die Arbeit wegzunehmen. Die nicht der „Remigration“ das Wort redet. Gendern nicht für verfassungswidrig hält, nicht gegen „Homos“ moppert. Und im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk nicht ein andauerndes Sprachrohr des Kanzleramtes sieht.
Wolfgang Michal hat ein beeindruckendes Zahlenwerk gebeitragt. Das ja, wahrheitsgemäß, das finanzielle Desaster auch in Deutschland beschreibt. Und das hilflos anmutende Gegenrudern der Regierungen in der entfernteren und nahen Vergangenheit und in der Gegenwart gleich mit. Michal hat zu Recht darauf hingewiesen, dass mit dem Ansteigen des Quecksilbers im immer wieder begutachteten Angstbarometer deutscher Befindlichkeiten der Zweifel wuchs. Und dass mit dem Zweifel auch die Reputation der AfD stieg. Dass dieses Angstbarometer den Anstoß zur Gründung der AfD gab, ist freilich nur ein Teil der Wahrheit. Die AfD-Gründer sahen vielmehr, dass sich mit der Zutat Angst ein ganz anderes, für sie viel wichtigeres Süppchen kochen ließ.
Mal angenommen, das Verweisen auf die sozialen Missverhältnisse in Deutschland ist einer Art „Integrität“ der AfD-Lenker geschuldet. Um hier die etablierten Parteien unter Druck zu setzen, endlich ihren Hintern für Deutschland zu heben. Warum korrespondiert dann das vermeintlich Gutgemeinte in ständiger Weise mit Angriffen auf die demokratischen Institutionen, auf Ausländer, vor allem Flüchtlinge, auf rechtsstaatliche Einrichtungen, die der AfD erst neuerdings eine rechtsextremistischen Ausrichtung vorwerfen? Die Verweise auf sozialstaatliche Mängel gehen seit Gründung der AfD mit Menschenverachtung und „das Sytem“ verachtenden Parolen einher. Und ziehen Anhänger auch und gerade deswegen zuhauf an. Das ist nicht Versehen, sondern Vorsatz.
Ich wage es, angesichts stetig wachsender Zustimmung für die AfD (bis hin zu zuletzt auch bundesweiten Siegesparteiwerten, besonders aber in den ostdeutschen Ländern) die Frage zu stellen, ob sich da nicht Luft verschafft, was ideologisch verschüttet schien, aber nie war. Und was nun, mitten im sozialpolitischen Verfall deutscher Regierungspolitik, ungefiltert und rechtsschäumend an die Oberfläche schwappt. „Der Aufwärtstrend der AfD korreliert mit Schulden und Preisen“, so Wolfgang Michal. Ich behaupte: Der Aufwärtstrend der AfD korreliert mit sozialpolitischem Verfall nebst einer antidemokratischen, rechtsextremen Gesinnungsflut. Preise runter, AfD weg? Schlichter geht Analyse nimmer. Und wäre mir einfach zu wunderbar.
Es ist schwer genug, den Zug des Sozialabbaus aufzuhalten. Ja, Herr Michal, wenn es gelänge, wäre Einiges gewonnen! Ich befürchte aber, dass dies nicht gelingt. Dass Beobachter der politischen Landschaft deshalb angesichts des AfD-Zulaufs weiter ihre Protestwähler*innen-Nummer schieben können. Und dabei übersehen wird, wie sich neben einem voranschreitenden Sozialabbau ein ideologisch immer offenerer (und weiter verharmloster) Aufbau rechtsextremer Gesinnung vollzieht. Und per Wahlen weiter Einzug in Parlamente und, schlimmstenfalls, auch Regierungen hält. Das hatten wir schonmal und das sollte nicht wieder passieren. Wer am Protestwähler*innen-Mythos klebt, sollte diesbezüglich mal in sich gehen. Und sich und andere ehrlich machen.

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