Worum es in Diskursen auch immer geht. Ob Russland, Ukraine. Israel, Palästinenser. Die Stürme der Debatten fegen über einen hinweg. Dass sie drohen, die Dächer eigener Gewissheiten abzudecken. Und die Häuser sicher geglaubten Unterschlupfs zu verwüsten. Dabei wird zunehmend deutlich, wie sehr wir Gefahr laufen, von allzu fragwürdigen Interessen verschüttet zu werden. Politik, Institutionen. Sie versuchen uns, auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. Wir mühen uns, klare Gedanken zu fassen. Kaum haben wir einen Zipfel erwischt, der uns versichern mag, dass wir zumindest nicht ganz falsch liegen, biegen Zweifel um die Ecke. Weil irgendein anderes Argument schlüssig scheint. Das Tempo, mit dem sich das alles vollzieht, ist geeignet, den Geist hinter sich her zu schleifen. Und eigene Orientierung zu verlieren. Wir werden in einen perfiden Krieg der Meinungsmache gezerrt.
Ich habe bisher versucht, mich zwischen Politik und Institutionen zu sortieren. Und bin dabei vor allem immer wieder auf Fallen und Grenzen gestoßen. Die Lager haben dazu geführt, dass ich mich am Ende stets in einem der vielen Gräben wiederzufinden drohte, die ausgehoben werden. Von scheinheiligen Polit-Akrobaten. Ideologisch gesteuerten Think-Tanks und Vereinigungen. Windigen Handelsvertretern schwer kalkulierbarer Seelenverkäufer. Wer durch aufgewühlte Meere einen sicheren Hafen sucht, braucht eine starke eigene Navigation. Die einen bei anschwellendem Wellengang nicht gleich aus dem Ruder laufen lässt. Ich darf, ja muss, diesen Schluss ziehe ich, Zweifel an dem haben, was einem an Überzeugungen vorgesetzt wird. Man braucht nicht gleich einem Standpunkt folgen. Man sollte sich nicht eigenen Denkens wegen in Schubladen sortieren lassen. Haltung ist auch Selbsterhaltung.
Warum ich das schreibe: Ich habe gerade im „Tagesspiegel“ ein Interview mit dem israelischen Filmemacher Nadav Lapid gelesen. Von ihm ist der Film „Yes“, der ein beeindruckendes Bild auf ein Land wirft, das zwischen der Verteidigung seiner Existenz und Völkerrechtsverbrechen pendelt. Das Werk handele, so Lapid, „vom Zustand der Menschheit“. Und stelle die Frage, wie man in einer Gesellschaft leben könne, „die sich so weit von ihren Idealen entfernt“ habe. Die „Geld und Macht verehrt und langsam im Nationalismus versinkt“. Das freilich, so Lapid, gelte nicht nur für Israel, sondern „für 90 Prozent der Welt“. Was, so füge ich an, den Universalismus verdeutlicht, an dem sich auch Israels Regierung messen lassen muss. Weswegen, so Lapid sinngemäß, Empathie sich selbst gegenüber nicht in eine Normalität von Gleichgültigkeit und Rache gegenüber anderen münden darf.
Lapid erklärt sich zwischen der Liebe zu seinem Land und dem, was die Regierung seines Landes Gaza antut. Aber nicht nur die Regierung: „Wenn ich heute an Tel Aviv denke, denke ich an die Hauptstadt der Menschen, die sich an den Horror gewöhnt haben, den sie anderen antun“. Das sagt jemand, der Israel liebt. Und Tel Aviv. „Es spielt keine Rolle, ob ich eines Tages in Paris sterben werde, dieser Ort wird mein Herz niemals so berühren wie Tel Aviv“. Der gleichwohl die Augen nicht vor dem schließt, was ist. Der einen Film dreht und „in der Mittagspause“ liest, dass in Gaza „wieder 130 Menschen gestorben sind“. Und der zu den Widersprüchen sagt: „Man kann nicht über den Tod in Gaza sprechen, ohne über die Liebe in Tel Aviv zu sprechen“. Was paradox klingt, aber umgekehrt nicht mehr. Vor allem nicht so einfach, wie es sich nicht wenige mit ihren ewigen Lügenbildern machen.
Das Interview berührt mich, weil es den großen Universalismus von Konflikten wie in nahost darstellt. Und weil ich aufgebracht darüber bin, wie genau dies dazu führte, dass am 9. November in der Jüdischen Gemeinde zu Frankfurt am Main der amerikanisch-jüdische Philosoph Jason Stanley von einem Rabbiner gehindert wurde, seine Rede zu Ende zu halten. Dabei wurde er eigens eingeladen, dort zu sprechen. Es passte dem Gastgeber nicht, zu hören, was ein Jude über seine Familiengeschichte und den Schlamassel zu sagen hat, in den, ausgehend vom Terror der Hamas, auch Israels Regierung Jüdinnen und Juden stürzt. Der Antisemitismus wo und wie immer verurteilte. Aber auch sagte: „Kritik an den Gräueltaten Israels im Gazastreifen hingegen ist kein Antisemitismus. Kritik an Israels langjähriger ungleicher Behandlung des palästinensischen Volkes ist ebenfalls kein Antisemitismus.“
Lavid, Stanley. Das ist nicht das Geheul der Stürme, die über Diskurse hinwegfegen, um große Teile von ihnen zu steuern. Oder zu unterbinden. Es sind sehr persönliche Stimmen. Die mir aber Gewicht sind, ohne dass sie einem verengten Narrativ von der einen oder anderen Seite folgen. Sie sind mir von vorn herein vertrauter als die konfektionierten Plädoyers, die tagtäglich von Medien transportiert oder oft von ihnen selbst gehalten werden. Und sie erscheinen mir integerer, weil authentischer, als die Kundtuungen derer, die sich politischem Kalkül widmen oder, aus fadenscheinigen Gründen, unterwerfen. Die deutsche Staatsräson hat gezeigt, wie wetterfest sie ist, wenn die Koordinaten wanken. Jüdische Institutionen geraten zunehmend in den Verdacht, ihre Community je nach Wetterlage zu verraten. Denn so geschlossen, wie das Bild gezeichnet werden soll, ist es beileibe nicht.
Überall in Politik und Institutionen begegnet einem das, was nicht nur hierzulande Vereinsmeierei genannt wird. Demnach muss, wer die Hecke nicht nach Vorschrift schneidet, den Garten verlassen. Mir graut seit jeher vor „geschlossenen Veranstaltungen“ und ideologischer Kleiderordnung. Weil meist nicht integre oder empathische Haltung dahinter steckt. Sondern die Angst davor, es könnte entlarvt werden, dass es genau daran mangelt. Insofern ist nicht gemeint, wie es manche wünschen, „Meinungskorridore“ beliebig zu öffnen. Sondern trügerischer Beliebigkeit entgegenzuwirken. Und sich Zeit und Platz zu nehmen, Standpunkte, wozu auch immer, auf Belastbarkeit im Sinne aufgeklärter und etwa demokratischer und menschlicher Grundhaltung hin abzuklopfen. Will heißen: Es ist nicht unbedingt schlecht, wenn der Geist nicht mit dem Tempo von Geisterfahrern mithält.

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