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Das Andere Weihnachten

Schon als Kind hatte ich viel Freude an Musik. Welche auch immer aus Lautsprechern tönte. So war es klar, dass ich früh zur Musikschule ging. Flötenunterricht. Akkordeon. Klarinette. Gesang. Chor. Der Chor war mehr als ein Chor. Er war zweites Zuhause. Der Chorleiter, Sebastian Korn, ging bei uns daheim ein und aus. Es wuchsen da, wenn man so will, zwei Familien zusammen. Ohne die Musikschule in Frankfurt am Main kann ich mir im Rückblick mein Leben nicht vorstellen. Sie war mein Lebenselixier. Jedes Jahr im Sommer und Winter Aufführungen. Im Sommer etwa das Singspiel „Wir bauen eine Stadt“ des Frankfurter Komponisten Paul Hindemith. Seine Musik: Von den Nazis als „entartet“ abgestempelt. Flucht, Exil. Davon wusste ich damals zunächst nichts. Im Nachhinein empfinde ich es fast als schicksalhaft, dass wir seine Musik auf die Bühne brachten. Vielleicht war es der heimliche Beginn meiner Politisierung. Viel mehr erinnere ich freilich eine Weihnachtsaufführung. Da war ich vielleicht zwölf.

Zwölf, das was das Jahr 1968. Das Jahr der unseligen Notstandsgesetze in der BRD. Das Jahr der großen Bewegungen, in denen überall auf der Welt junge Menschen gegen alte Strukturen aufbegehrten. Und das Jahr des Massakers von My Lai. Als die USA, die drei Jahre zuvor erstmals Napalm-Bomben im Vietnam-Krieg einsetzten, ein ganzes Dorf auslöschten. Die Bilder gingen später um die Welt. Und standen, wie viele andere, symbolhaft für die Verbrechen der Amerikaner in Vietnam. Zerstörungen. Hunger. Tod. Bilder des Grauens. Wie in jedem Jahr spielten wir Mädchen und Jungen die Weihnachtsgeschichte nach. Zum Fest des Friedens. Wer die Idee aufbrachte, weiß ich nicht. Irgendjemand von uns meinte, wenn alles so friedlich sei, warum sehe man dann diese schrecklichen Bilder? Und wie kann das sein, dass wir zuhause gemütlich feiern und woanders Menschen gleichzeitig derart leiden? Irgendwie wollten wir bei dieser Weihnachtsaufführung 1968 etwas anders machen als in den Jahren zuvor.

Es war nur ein kleiner Ausdruck unseres Erschreckens über den Schrecken in der Welt, den wir fanden. Wir hielten am Ende der Aufführung Plakate hoch, die geschmückte Weihnachtsbäume zeigten. Mit bunten Kugeln, Lametta und Lichtern. Dann drehten wir die Plakate um. Zu sehen waren im Publikum, meist Eltern, Bilder aus: Vietnam. Es war still im Saal. Zum ersten Mal wurde nicht geklatscht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass damals Protest der Erwachsenen aufbrandete. Wie man Kinder derart „instrumentalisieren“ könne. Wir erzählen zuhause, dass es unsere, also die Idee der Mädchen und Jungen im Chor war. Nicht die des Chorleiters, wiewohl er, und deswegen liebte ich ihn, ein großer Menschenfreund war. Die Idee also durchaus seinem Kopf hätte entsprungen sein können. Es war unsere Idee, unser Mut. Das Weihnachtsfest einmal, so schön es auch sein mochte, denen zu widmen, die nichts zu feiern hatten. Die litten oder starben, während wir Lichter anzündeten.

Vielleicht war es 1968 schon ein bisschen zur Gewohnheit geworden, sich nicht einfach mit dem abzufinden, was andere einem vorgaben. Nicht in das Narrativ eines bis dahin weithin spießigen Nachkriegsdeutschland einzustimmen. Das Wort war damals noch nicht so in Umlauf wie heute. Aber das Jahr steht bis heute dafür, sich nicht mit Dingen zu arrangieren, die wenigstens beim zweiten Hinsehen gegen das eigene Menschenbild stehen. Zumindest gegen das, das wir, das Viele sich wünschen. Bis in die 1960er Jahre hatten noch Altnazis in den Behörden gesessen. Kam es Dank des Staatsanwalts Fritz Bauer, dem reichlich Steine in den Weg gelegt wurden, zum Auschwitz-Prozess. Es wuchs das Bedürfnis, Realitäten freizulegen. Progressiv war das Stichwort. Aufbruch nach vorne die Losung. Liberalismus. Links. Stichworte, egal, wo man genau stand. Es war auch das Jahr, in dem Beate Klarfeld Bundeskanzler Kiesinger, CDU, ohrfeigte. Wegen seiner Nazi-Vergangenheit.

Kurt-Georg Kiesinger ist der einzige Kanzler in der deutschen Geschichte mit herausgehobener NS-Vergangenheit. Die Ohrfeige markierte den Anfang einer neuen Ära, in der Rechte, ob Rechtspopulisten oder Rechtsextreme, keine Zukunft mehr haben sollten. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass hierzulande nochmal Rechte eine größere Rolle spielen. Gar davor stehen, nennenswerte Machtpositionen zu erlangen. Und dafür das Votum, ja den Segen, einer beachtlichen Zahl von Menschen bekommen. Der Aufbruch in eine Zeit unerschütterlichen Liberalismus‘ war für mich damals ohne Alternative. Nach links, auf dem Boden des Grundgesetzes, das konnte ich mir vorstellen. Nach rechts, never ever! Und nun? Haben wir den Salat. Die Zeiten der Aufbrüche: Mir liegen sie unendlich weit weg. Ich werde 70. Und sehe mich dort wieder, wo ich als Chorjunge stand. Wieder Plakate hochhalten. Weihnachten. Und wenden. Kriege. Verbrechen. Terroranschläge. Und die unsäglichen Rechten der AfD.

Was mich betrübt: Dass damals Ideen und Mut wie das Hochhalten der Christbaum-Plakate und das Wenden als Protest gegen den Schrecken honoriert wurden. Zumindest empfand man es nicht als feindliche Aktion. Heute würden in Medien, voran die angeblich sozialen, Hasstiraden gegen eine derartige Zeichensetzung losgetreten. Und Debatten darüber geführt, welche Verbrechen da nicht gezeigt, aus ideologischem Kalkül unter den Teppich gekehrt werden. Und angenommen auf den gewendeten Plakaten würden nicht nur Kriege angeprangert, sondern auch Flüchtlingsfeindlichkeit, Stadtbild-Ressentiments, Weidels und Höckes – in manch Berliner Stadtteilen wären Musikschulen, Chorkinder und ihre Eltern vor Angriffen, bisweilen ihres Lebens nicht mehr sicher. Es würde danach geschrien, dem Hort der Aktion die staatlichen Zuschüsse zu streichen. Kulturkämpfer würden vor Polarisierung warnen. Die, die Plakate hochhalten. Nicht etwa Wegseher*innen, Rechtspopulisten und rechten Mob.

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